verbürgt: Ist dann nicht jede »Interpretation«
eine die Identität des Werkes verletzende Abweichung? So gesehen, wäre
die technische Reproduktion gewissermaßen eine Abweichung in zweiter
Potenz. Andererseits gab es offenbar Fälle (Mahler-Symphonien), wo erst
die analytische technische Reproduktion alles in der Partitur aufgezeichnete
deutlich zutage treten ließ.
Harden weist auf die Problematik einer solchen Partiturtreue hin, die sich in der Entwicklung
und Verfeinerung der Aufnahmetechnik bereits bei der Einführung der Stereotechnik
einstellte:118
Zitiert nach Harden 1985, S. 71.
|
Die Auffächerung des klanglichen Geschehens durch die Zweikanaltechnik,
die Möglichkeit, auch die Tiefenstaffelung eines komplexen Klangkörpers
abzubilden, bot die Chance erhöhter aufnahmetechnischer Durchleuchtung
der Partituren.
Nun war nicht mehr der Klang im Konzertsaal, sondern die Vorgabe der Partitur die
Preferenz für die Aufnahme: An die Stelle der »verführerischen Überwirklichkeit« einer
durch Tonbandcutten erzeugten Aufnahme trat nun die klangliche »Überwirklichkeit« der
Partiturvorgabe.119
Dieses Problem der »Natürlichkeit« des Klanges führt Harden weiter aus. So sei etwa der
»natürliche« Klang des Orchesters am Platz des Dirigenten ein anderer als in der
achten Reihe des Parketts, dieser ein anderer als in der 30ten Reihe. Auch die
Saalakustik verändert – neben der Frage des Hörplatzes – den Eindruck eines Klanges
bedeutend.
120
Zitiert nach Harden 1985, S. 67.
|
Harden schließt, dass oft nicht der »natürlichste Klang« im Sinne einer akustischen
Photografie am besten ist, sondern die überzeugendste Aufnahme mit realistischer
Wiedergabe der Instrumente und einem angemessenen Raumhall. Da eine präzise
Eindeutigkeit bei den Aufnahmeanforderungen nicht möglich ist und da die Anforderungen
an das Medium ständigem Wandel unterworfen sind und sich zwangsläufig am jeweils
erreichten technischen Stand der Aufzeichnung oder Übertragung orientieren, ist so
nach Harden eine Partiturtreue wie von Jungheinrich gefordert (s. o.) nicht
realisierbar.
121
Es wird klar, dass auch hier die Problemstellung von den Kritikern oft ungerichtet und
unreflektiert verfolgt und vorgetragen wird. Harden stellt dies – anders, als Jungheinrich es
auslegen möchte – heraus, indem er beispielsweise auf die vielen Hör(platz)möglichkeiten
hinweist, die alle ein anderes Hörbild ergeben (und zwar auch schon im »Original«, dem
Live-Konzert). Als Fazit aus dieser Teildiskussion lässt sich auch feststellen,
dass über die Aufnahmeästhetik keine allgemeine Feststellung getroffen werden
kann.122
Vgl. hierzu im Literaturverzeichnis den Abschnitt zur CD-Ästhetik.
|
Dieser Bereich kann nicht auf den Träger Compact Disc bezogen werden, sondern liegt
fast ausschließlich in der Entscheidung des Tonmeisters sowie in den akustischen
Bedingungen der Aufnahme (Saal, Orchesteraufstellung, Mikrofonanordnung). Dabei
muss natürlich eine grundsätzliche Kenntnis der Anforderungen der Digitaltechnik beim
Tonmeister gegeben sein, doch stellt sich diese Frage ebenso auch bei der analogen
Wiedergabe, ist also nicht spezifisch für die Digitaltechnik.