- 44 -Schabbing, Bernd: Musik- und Audiotechnologien zwischen Technik, Marketing und Kundenwunsch 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (43)Nächste Seite (45) Letzte Seite (108)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

verbürgt: Ist dann nicht jede »Interpretation« eine die Identität des Werkes verletzende Abweichung? So gesehen, wäre die technische Reproduktion gewissermaßen eine Abweichung in zweiter Potenz. Andererseits gab es offenbar Fälle (Mahler-Symphonien), wo erst die analytische technische Reproduktion alles in der Partitur aufgezeichnete deutlich zutage treten ließ.

Harden weist auf die Problematik einer solchen Partiturtreue hin, die sich in der Entwicklung und Verfeinerung der Aufnahmetechnik bereits bei der Einführung der Stereotechnik einstellte:118

118
Zitiert nach Harden 1985, S. 71.

Die Auffächerung des klanglichen Geschehens durch die Zweikanaltechnik, die Möglichkeit, auch die Tiefenstaffelung eines komplexen Klangkörpers abzubilden, bot die Chance erhöhter aufnahmetechnischer Durchleuchtung der Partituren.

Nun war nicht mehr der Klang im Konzertsaal, sondern die Vorgabe der Partitur die Preferenz für die Aufnahme: An die Stelle der »verführerischen Überwirklichkeit« einer durch Tonbandcutten erzeugten Aufnahme trat nun die klangliche »Überwirklichkeit« der Partiturvorgabe.119

119
Harden 1985, S. 71.
Dieses Problem der »Natürlichkeit« des Klanges führt Harden weiter aus. So sei etwa der »natürliche« Klang des Orchesters am Platz des Dirigenten ein anderer als in der achten Reihe des Parketts, dieser ein anderer als in der 30ten Reihe. Auch die Saalakustik verändert – neben der Frage des Hörplatzes – den Eindruck eines Klanges bedeutend.120
120
Zitiert nach Harden 1985, S. 67.
Harden schließt, dass oft nicht der »natürlichste Klang« im Sinne einer akustischen Photografie am besten ist, sondern die überzeugendste Aufnahme mit realistischer Wiedergabe der Instrumente und einem angemessenen Raumhall. Da eine präzise Eindeutigkeit bei den Aufnahmeanforderungen nicht möglich ist und da die Anforderungen an das Medium ständigem Wandel unterworfen sind und sich zwangsläufig am jeweils erreichten technischen Stand der Aufzeichnung oder Übertragung orientieren, ist so nach Harden eine Partiturtreue wie von Jungheinrich gefordert (s. o.) nicht realisierbar.121
121
Harden 1985, S. 67f.

Es wird klar, dass auch hier die Problemstellung von den Kritikern oft ungerichtet und unreflektiert verfolgt und vorgetragen wird. Harden stellt dies – anders, als Jungheinrich es auslegen möchte – heraus, indem er beispielsweise auf die vielen Hör(platz)möglichkeiten hinweist, die alle ein anderes Hörbild ergeben (und zwar auch schon im »Original«, dem Live-Konzert). Als Fazit aus dieser Teildiskussion lässt sich auch feststellen, dass über die Aufnahmeästhetik keine allgemeine Feststellung getroffen werden kann.122

122
Vgl. hierzu im Literaturverzeichnis den Abschnitt zur CD-Ästhetik.
Dieser Bereich kann nicht auf den Träger Compact Disc bezogen werden, sondern liegt fast ausschließlich in der Entscheidung des Tonmeisters sowie in den akustischen Bedingungen der Aufnahme (Saal, Orchesteraufstellung, Mikrofonanordnung). Dabei muss natürlich eine grundsätzliche Kenntnis der Anforderungen der Digitaltechnik beim Tonmeister gegeben sein, doch stellt sich diese Frage ebenso auch bei der analogen Wiedergabe, ist also nicht spezifisch für die Digitaltechnik.

Erste Seite (i) Vorherige Seite (43)Nächste Seite (45) Letzte Seite (108)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 44 -Schabbing, Bernd: Musik- und Audiotechnologien zwischen Technik, Marketing und Kundenwunsch