- 41 -Probst-Effah, Gisela (Hrsg.): Musikalische Volkskultur und elektronische Medien 
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mündlicher Überlieferung illustrieren), spielte aber im aktiven Liedrepertoire der Zeit nach dem Kaiserreich keine wesentliche Rolle mehr.

Kritische Zeitgenossen sahen das Lied als gleichermaßen prominenten wie bezeichnenden Bestandteil jener obrigkeitshörigen »Volkslied«-Pflege, bei der ein romantisierend-volkstümelndes Liedgut stets mit untertänigster Huldigung des Monarchen einher ging. Erich Weinert formulierte dies prägnant in der letzten Strophe seines satirischen Gedichts vom »Einheitsvolkslied«:

Die Lerche schmettert himmelan.
Es geht von Mund zu Munde.
Der Kaiser ist ein lieber Mann.
In einem kühlen Grunde.24


24   Erich Weinert: Einheitsvolkslied (1924), Strophe 7; zit. nach Erich Weinert: Gesammelte Gedichte. Band 1 (1919–1925). Berlin 1970, S. 165.

Doch selbst in den zwanziger Jahren konnte man das Lied zunächst noch in alten, nicht ausgemusterten Schulbüchern finden. Beispielsweise erschien 1923 die 18. Auflage von Moritz Vogels »Liederbuch für Höhere Mädchenschulen« unverändert mit diesem Kaiser-Lied.25

25   Liederbuch für Höhere Mädchenschulen. Sammlung ein-, zwei-, drei- u. vierstimmiger Lieder u. Gesänge geistlichen u. weltlichen Inhalts. Hrsg. von Moritz Vogel. Heft 1 – Unterstufe. Leipzig 81923, S. 27.

Solche Quellen korrespondieren jener monarchistisch gesonnenen Strömung der zwanziger Jahre, die auf eine Rückkehr des Kaisers hoffte und eine Restaurierung der Monarchie anstrebte. Auch der Komponist Dietrich Erdmann (geb. 1917) erinnert sich etwa daran, wie er damals mit Befremden auf dieses Lied in seinem Lesebuch stieß und – als Kind eines engagierten Gewerkschafters – irritiert seine Mutter dazu befragte. Rückblickend resümiert Erdmann zu diesem denkwürdigen Erlebnis: »Ich würde sagen, dieser kleine, geradezu belanglose Vorfall war ein Symptom der Schwäche der Weimarer Republik. Es waren noch Lesebücher aus der Kaiserzeit im Umlauf«.26
26   Hans Otto Hemmer: Eines unserer Zeitzeugen-Gespräche: Dietrich Erdmann über Vater Lothar Erdmann. In: Hefte der Johannes-Sassenbach-Gesellschaft (Berlin), Heft 4; hier zit. nach: http://www.gewerkschaften-sassenbach.de/textHeft4.html [Stand Sept. 2004].

Im NS-Staat gab es wiederum punktuelle Versuche, dieses Lied aus dem Kaiserreich den Bedürfnissen des »Dritten Reichs« anzupassen:

Der Führer ist ein lieber Mann,
er wohnet in Berlin;
und wär’ es nicht so weit von hier,
so zög ich nach Berlin.27


27   Das Volksliederbuch. Hrsg. von Heinz Röllecke. Köln 1993, S. 138.

Wie der Liedforscher Heinz Rölleke berichtet, hat er diesen Text bei seiner Einschulung (Herbst 1943 im Sauerland) gelernt.28

28   Brief von Prof. Dr. Heinz Rölleke (Wuppertal) an den Autor, 22. März 2003.

Solche nazistischen Indienstnahmen des Liedes sind jedoch als lokal begrenzte Einzelfälle zu bewerten. Eine weitgreifende Liedverbreitung unter den Vorzeichen des »Führers« fand jedenfalls nicht statt.29
29   Insofern ist auch die pauschale Anmerkung »Im Dritten Reich lehrte man die Kinder auf die Melodie den Text: ›Der Führer ist ein lieber Mann …‹« (Rölleke: Das Volksliederbuch, wie Anm. 24) irreführend. In den Schulliederbüchern der Zeit 1933–1945, die im Deutschen Volksliedarchiv vorhanden sind, findet sich beispielsweise kein einziger Beleg für diese Variante (Basis: 101 Liederbücher, Stand: März 2003). Auch in Fred K. Priebergs »Handbuch Deutsche Musiker 1933–1945« (CD-Rom 2004), das auf ca. 10 000 Seiten auch den Inhalt zahlloser Liederbücher der NS-Zeit erfasst, ist keine Quelle für diese Liedvariante zu finden.


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