II. Kaisers Geburtstag und patriotische Lieder.
Das Lied als Medium schulischer Sozialisation
Im deutschen Kaiserreich war das Lied nicht nur in Schul- und
Kinderliederbüchern, sondern auch »in vielen [Schul-]Fibeln der Zeit zu
finden«.14
Der schulische Kontext war das zentrale Exerzierfeld, auf dem mit diesem Lied
vaterländische Gesinnung und Fixiertheit auf die politische Leitgestalt eingeübt wurde.
Ein Text über den »Geburtstag des Kaisers« aus einer zeitgenössischen Fibel mag diese
Praxis etwas illustrieren:
»Da lassen wir die Bücher zu Hause und gehen in Festtagskleidern zur Schule
[…]. Manche Knaben haben einen Helm auf dem Kopfe und einzelne sogar
einen Säbel an der Seite […]. In unserm Klassenzimmer sieht es ganz anders
aus als sonst. An den Wänden sind Girlanden und kleine Fähnchen befestigt.
Auf dem Pulte steht zwischen schönen Blumen das Bild des Kaisers.«
Sodann wird beschrieben, wie der Lehrer vom Kaiser erzählt. Sobald der
Lehrer aufgehört hat, stimmen alle Hochrufe an und: »Dann singen wir das
Lied: ›Der Kaiser ist ein lieber Mann‹, und hierauf dürfen wir nach Hause
gehen.«15
Wie prägend diese schulische Sozialisation wirkte, lässt sich auch anhand der
Memoiren-Literatur ablesen. Ein ehemaliger Rektor berichtet etwa rückblickend, das erste
Lied, das er seinerzeit im ersten Schuljahr gelernt habe, sei »Der Kaiser ist ein lieber Mann
gewesen«.16
Einen weiteren exponierten Anlass für die schulische Liedrezeption boten
Kaiserbesuche, zu deren öffentlicher Inszenierung auch die Schulkinder herangezogen
wurden.
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