- 229 -Probst-Effah, Gisela (Hrsg.): Musikalische Volkskultur und elektronische Medien 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (228)Nächste Seite (230) Letzte Seite (270)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

alte Zeiten, Volkskunst und Traditionelle Kultur widerspiegelt; über sie informieren die Websites http://www.centerfolk.ru und http://www.ntvr.ru. Hervorzuheben ist auch die Tätigkeit des folkloristisch-ethnographischen Zentrums von Anatolij M. Mechnezov in Sankt Petersburg, welches Volksmusik aus dem Nordwesten Russlands gesammelt und im Laufe der letzten Jahre veröffentlicht hat. Eine bedeutende Arbeit bei der Organisation wissenschaftlicher Konferenzen zu Fragen der traditionellen Kultur leistet das Russische Institut für Kunstgeschichte in Sankt Petersburg, das über ein großes Musik- und Folklorearchiv verfügt und eine wichtige Rolle beim Sammeln und Aufbewahren von Volksmusik spielt. Im Allgemeinen beschäftigen sich diese Zentren bzw. Institute mit den Problemen der russischen Volksmusik. Aber in Astrachan z. B. geschah die Schaffung eines solchen Zentrums im Jahr 2000 – des Staatlichen Folklorezentrums Astrachaner Lied (http://www.astrasong.ru) – bewusst unter dem Aspekt der Erforschung der kulturellen Traditionen verschiedener Ethnien des Wolgagebiets (Russen, Deutsche, Kalmücken, Tataren, Kasachen u. a.). Dabei werden von der Unterabteilung des Zentrums, dem Folkloreensemble Astrachaner Lied, das schon seit 26 Jahren existiert, außer wissenschaftlicher Arbeit, Sammel- und Verlagstätigkeit polyethnische Konzertprogramme vorbereitet, die sich unmittelbar auf die Feldaufzeichnungen in den Wolgadörfern stützen. 1978 gelang es dem Ensemble, die Musik zu traditionellen russischen Hochzeiten an der Unteren Wolga nachzugestalten. Erst 1991 wurde es von den Massenmedien beachtet, nicht in Russland, sondern in den USA, als Alan Kriegsman in The Washington Post erklärte, dass das Astrachaner Lied im Unterschied zum Ensemble von Ihor Moissejev russische Traditionen nicht bearbeitet, sondern sie in der originalen Gestalt und mit der ursprünglichen Musik darstellt. Immer wieder wird nach unseren Gastspielen in Südtirol (1996), Deutschland (1998) und Italien (2001) in der ausländischen Presse betont, welch wichtige Bedeutung die Präsentation authentischer, unbekannter Kulturtraditionen der Völkerschaften Russlands durch das Ensemble Astrachaner Lied hat. Gleichzeitig bleiben wir jedoch in unseren Massenmedien unbekannt, finden wir in offiziellen Kreisen keine Zustimmung. Die Staatsbeamten für Kultur in Astrachan erklärten mir mehrmals, dass es schlecht und falsch sei, dass wir die vom Volk geliebten Lieder nicht singen: gemeint sind Kneipen- und Gefängnislieder aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts und sowjetische Massenlieder über die Heimat. Sehr widersprüchlich ist auch das Verhältnis der Beamten zu unserer Darstellung der deutschen Folklore, obwohl es dem Ensemble Astrachaner Lied 1994 gelang, die Musik der Russlanddeutschen – zum ersten Mal nach ihrer Deportation nach Sibirien und Kasachstan – im Zentralen Fernsehen vorzustellen. Immer wieder wird Empörung geäußert, weil wir angeblich Lieder darbieten, die »dem Volk unbekannt sind und die die Zuschauer nicht mitsingen können«. Das stalinistische Prinzip – zur Zeit grausamer Repressionen das Publikum mit Komödienfilmen wie Die Kosaken vom Kuban abzulenken – ist im Bewusstsein vieler Beamter völlig erhalten geblieben und hat seine Autorität bis heute nicht verloren. Ständig versucht man, unsere Gruppe als ein Unterhaltungsensemble zu betrachten. Sie soll nach offizieller Auffassung die Menschen in Russland erheitern, belustigen und unterhalten: Eine solche Auffassung von der Aufgabe der musikalischen Volkskultur geht auf die Stalinzeit zurück und ist bis heute vollständig erhalten geblieben. Es ist ganz

Erste Seite (i) Vorherige Seite (228)Nächste Seite (230) Letzte Seite (270)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 229 -Probst-Effah, Gisela (Hrsg.): Musikalische Volkskultur und elektronische Medien