- 225 -Probst-Effah, Gisela (Hrsg.): Musikalische Volkskultur und elektronische Medien 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (224)Nächste Seite (226) Letzte Seite (270)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

können charakteristische Besonderheiten der Klangfarbe und der Mehrstimmigkeit russischer Lieder nicht mehr wiedergeben, weil sie nur noch sowjetische Massenlieder, d. h. professionelle, in Noten festgelegte, stilistisch vereinfachte Bearbeitungen von Volksliedern darbieten.

Die ländliche Tradition des russischen Volksgesangs wurde in dieser Zeit völlig verdrängt und zeigte sich erst wieder dank der Bewegung der Sechziger, Schestidesjatniki, einer kulturellen und politischen Bewegung der 1960er Jahre. Obwohl seit 1937 der berühmte Volkskundler Kliment Wassiljewitsch Kvitka, einer der Begründer der sowjetischen Musikethnographie, am Moskauer Konservatorium an einer großen Sammlung russischer Volksinstrumente arbeitete und traditionelle Musik aufnahm, fand die Präsentation des traditionellen russischen Gesangstils der Belgoroder-Kursker Region, den Kliment V. Kvitka und Anna V. Rudneva entdeckt hatten, erst in den sechziger Jahren statt. Dies war eines der wichtigsten Ereignisse innerhalb der musikalischen Volkskultur Russlands, vergleichbar mit der Veröffentlichung von Heldensagen und Klageliedern im Norden Russlands durch Pawel N. Rybnikov (1831–1885) und Alexander F. Gilferding (1831–1872) am Ende des 19. Jahrhunderts.

Nach den Tragödien des Zweiten Weltkrieges und der Stalinzeit gab der unversehrte, authentische Volksgesang der russischen Dörfer eine unerwartete Antwort einfacher Bauern bei der Suche nach einer nationalen Idee und moralischen und kulturellen Werten. Diese Entdeckungen führten zu volkskundlichen Studien junger russischer Komponisten, zur Komposition des berühmten Russischen Heftes von Valerie G. Gavrilin und des Russischen Triptychons und der Kursker Lieder von Georgi Sviridov. Im Gefolge dieser Ereignisse wurden dörfliche Sänger von den Folklore-Ausschüssen der UdSSR und der RSFSR zu Konzertaufführungen, Audioaufnahmen für Phonogrammarchive, Schallplattenproduktionen und Radiosendungen nach Moskau eingeladen. Die Hauptstadt Russlands entdeckte auf einmal die Kraft und emotionale Wirkung authentischer Kunst: ihre Einfachheit, Aufrichtigkeit, echte Meisterschaft und Aussagefreiheit.

Am Anfang der 1970er Jahre begann eine Neuentdeckung mehrstimmiger russischer Volkslieder durch mehrere studentische Ensembles an den Konservatorien und Universitäten Moskaus, Sankt Petersburgs u. a. Städte; mit Bühnenauftritten trugen sie zu deren Verbreitung bei. Das Ensemble von Dmitry Pokrovskij (http://www.pokrovsky-ensemble.ru) nahm sofort die führende Position im In- und Ausland ein und behauptete sie bis zum Tode seines Leiters im Jahr 1997. Es gelang Pokrovski nicht nur, das wissenschaftliche Studium der Volksmusik mit deren professioneller Darstellung und die Volkstradition mit moderner Musikkultur zu verbinden, sondern auch, das Interesse der Massenmedien an seinen Aufführungen zu erhalten. In Sankt Petersburg erklangen 1977 in einer Aufführung des Leningrader Kammerfolkloristischen Ensembles unter Leitung von I. Matsievskij verschiedene altertümliche Instrumente. Das Ensemble des Leningrader Konservatoriums unter der Leitung von A. M. Mechnezov bemühte sich 1978 um die Wiederbelebung regionaler Traditionen des Nordwestens Russlands. Gleichzeitig formierten sich in verschiedenen Städten Russlands Folkloregruppen, die von Volkskundlern geleitet wurden. Sie erforschten im Laufe von mehreren Jahren russische regionale Traditionen und präsentieren das von ihnen gesammelte Material auf verschiedenen


Erste Seite (i) Vorherige Seite (224)Nächste Seite (226) Letzte Seite (270)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 225 -Probst-Effah, Gisela (Hrsg.): Musikalische Volkskultur und elektronische Medien