- 224 -Probst-Effah, Gisela (Hrsg.): Musikalische Volkskultur und elektronische Medien 
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unter dem russischen Volkslied ausschließlich einstimmige Lieder, und sie lenkten die ganze Aufmerksamkeit der Leser und Hörer auf originelle Einzelsänger, unter ihnen herausragende Dorfsänger der nordrussischen Heldensagen wie Iwan Rjabinin, Maria Krivopolenova und Wassily Schtschegolenok. Einer Reihe dieser hervorragenden Sänger wurden nach der Oktoberrevolution 1917 besondere Ehrungen zuteil. So schuf der sowjetische Bildhauer Sergej Konenkov die hölzerne Skulptur Verkündende Greisin, die Maria Krivopolenova gewidmet war. Diese wurde in den 1930er Jahren zum Symbol der »echten« russischen Volkskunst.

Alle russischen Komponisten verwendeten im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts russische Volkslieder nur in einstimmiger Version und ignorierten die Besonderheiten der Mehrstimmigkeit. Daraus resultierte die Tradition der einstimmigen Ausführung mehrstimmiger Volkslieder. Als markantes Beispiel einer solchen Tradition dient die hervorragende Interpretation russischer Lieder durch den berühmten russischen Sänger Fjodor Iwanowitsch Schaljapin aus den Jahren 1910–14: darunter Ach, du Nacht (noèen’ka), Geh auf, du Sonne, die rote (Ty wsoi’di, solnze krasnoe), die Balladen Legende von den 12 Räubern (Legenda o 12 rasbojnikach) und Heldensage über Ilja Muromez (Bylina o Il’je Muromze) und das Tanzlied Hatte eine Schwiegermutter sieben Schwiegersöhne (Bylo u töšen’ki semero sjat’jow).

Das Erbe der Stalinzeit und die traditionelle Mehrstimmigkeit

Waren in der Zeit vor der Revolution das Studium des mehrstimmigen russischen Volksgesangs und dessen Weitergabe durch das Fehlen entsprechender Aufnahmetechniken erschwert, so geriet in der stalinistischen Epoche der Zwang zu einer einheitlichen Denkweise der Massen in Widerspruch zu der Originalität, Phantasie und schöpferischen Energie eines mehrstimmigen Ensembles. Die heterophonen Arten des mehrstimmigen Gesangs waren dem Untergang preisgegeben. Sängerinnen wie Ljudmila Zykina und Olga Voronets repräsentierten die Vorstellungen und Ideale der Zeit seit den 1940er bis in die 1980er Jahre. Sie boten städtische Romanzen und deren kompositorische Bearbeitungen solistisch dar. Gleichzeitig wurden Volkstrachten uniformiert und nivelliert, die Instrumentalbegleitung akademisiert. Die Auftritte dieser Sängerinnen in Rundfunk und Fernsehen wurden zu ständigen, obligatorischen Komponenten nationaler Kultur in der Sowjetunion.

Lehrreich ist das traurige Schicksal eines hervorragenden Volkschores, den Mitrofan Petrowitsch Pjatnizkij, Kenner und leidenschaftlicher Bewunderer des russischen Volksgesangs, gegründet hatte. In den Jahren 1910–27 (zur Lebenszeit des Gründers) bestand der Chor aus 15–20 Sängern – Bauern des Woronesher, Rjasaner und Smolenker Gouvernements, die Pjatnizkij aus ihren Dörfern nach Moskau gebracht hatte. Der Chor trug zur Verbreitung mehrstimmiger russischer Volkslieder aus mündlicher Überlieferung bei, indem er Lieder verschiedener Genres aus regionalen Traditionen vortrug. In der Stalinzeit jedoch verlor dieser Chor (der sich später mit 80–120 Sängern bedeutend vergrößerte und den Namen seines Gründers Mitrofan P. Pjatnizkij zu tragen begann) die Verbindung mit diesen authentischen, z. T. improvisierten mündlichen Traditionen. Die heutigen Sänger dieses Chors


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