- 97 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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entsetzlich wahnsinnige Liebe des Ahnenstolzes, die sich nur als Haß gegen alles Lebende, wirklich Existierende äußern kann.« (Strobel/Wolf 1979, 273–274) Weiter schreibt Wagner: »Sie möchte [...] die Natur ausrotten, nur um ihren vermoderten Göttern wieder Leben zu schaffen.« (ebd., 274) Spricht er hier von »vermoderten Göttern«, so könnte er im übertragenen Sinne die bestehenden Machtverhältnisse seiner Zeit gemeint haben. Die neue Ordnung wendet sich gegen die bestehende. Deshalb will Ortrud als Vertreterin der alten Machtverhältnisse die neue Ordnung bekämpfen: »Sie möchte [...] die Natur ausrotten.« Hier zeigt sich auch, dass Wagner jene neue Ordnung für eine natürliche hält. Zu diesem Zeitpunkt glaubt er an den Erfolg der revolutionären Bewegung und an den politischen Umsturz.

2.4.1 Ein psychoanalytischer Interpretationsansatz

Neben einer biographisch orientierten Interpretation der Figur Ortruds gibt es in der Wagner-Literatur psychoanalytische Ansätze. Hierbei beziehe ich mich überwiegend auf die Ausführungen von Peter Dettmering in Dichtung und Psychoanalyse . Dettmering sieht in der Konstellation Ortrud–Lohengrin den Kampf zwischen der mächtigen Weiblichkeit und einer geschwächten Männlichkeit (vgl. Dettmering 1969, 164–165).

Zunächst geschlagen, nachdem Elsa von Lohengrin gerettet wird, gibt sich Ortrud jedoch nicht ihrem Schicksal hin, sondern schmiedet neue Pläne zur Sicherstellung ihrer Macht. Für ihre Zwecke spannt sie erneut Telramund ein. Er sucht kurzzeitig, sich von Ortruds Einfluss zu lösen. Doch befindet er sich im Bann ihrer erotisch-faszinierenden Weiblichkeit. Dettmering sieht diese erotische Anziehungskraft in der Ortrud zugeschriebenen seherischen Kraft (vgl. ebd., 164). Diese Kraft wird deutlich in einer Regieanweisung. So spricht Ortrud in der ersten Szene des zweiten Aufzugs: »Die Stund’ ist das, wo dir mein Auge leuchten soll!« In den Regieanweisungen heißt es: »Während des Folgenden nähert sich Friedrich, wie unheimlich von ihr angezogen, Ortrud immer mehr und neigt sein Ohr aufmerksam zu ihr herab.« (Zentner 1995, 29) Kaum ist also Ortruds »leuchtendes Auge« erwähnt, ist Friedrich in ihrem Bann. In der Psychoanalyse ist das leuchtende Auge als Erscheinungsform der erotischen Anziehungskraft des Weiblichen bekannt.4

4 Dettmering verweist in diesem Zusammenhang auf den Artikel Augenleuchten, Schamgefühl und Exhibitionismus von Imre Herman, erschienen in der Schweizer Zeitschrift für Psychologie und ihre Anwendungen Bd. 16, Heft 1, 1957, 50ff.

Ortruds Stärke steht nach Dettmering die geschwächte Männlichkeit Lohengrins gegenüber. Lohengrins Würde ist für ihn nicht aus sich selbst konstituiert. Seine Männlichkeit gründet in der Berufung auf den starken Vater Parzifal (vgl. Dettmering 1969, 164). Hinter dieser Vater-Sohn-Beziehung


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