- 96 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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wollte ich entfliehen, sondern der morastigen, brodelnden Schwüle der trivialen Sinnlichkeit eines bestimmten Lebens, des Lebens der modernen Gegenwart.« (Kapp 1914, 124)

2.4 Wagner in der Beziehung Ortrud – Lohengrin

Wie oben ausgeführt sah der Komponist sich in einer Situation, in der seine Umwelt ihn ablehnte. Er fühlte sich von ihr missverstanden. Und er war nicht bereit, seine Kunst auf den Geschmack des Publikums und der Kritiker auszurichten. Doch merkte er auch, dass dies notwendig war für sein finanzielles Auskommen. Die Ursachen für diesen Bedingungszusammenhang sah er in der politischen Situation der Zeit. Während der Entstehung des Lohengrin beschäftigte Wagner sich daher zunehmend mit politischen Ideen revolutionären Inhalts. Er sah eine neue Ordnung nahen (vgl. Gutman 1989, 142–151). Folgt man dem Aufsatz Lohengrin oder die Utopie in A-Dur von Hans Mayer,1

1 Zum ersten Mal erschienen in den Bayreuther Programmheften des Jahres 1968
so ist Lohengrin als Kritik Wagners an den politischen Bedingungen der damaligen Zeit zu betrachten, die sein erfolgreiches Fortkommen verhinderten.

Hans Mayer sieht die Beziehung zwischen Lohengrin und Ortrud primär unter politischen Gesichtspunkten. Auf den ersten Blick scheint der Kampf Lohengrins gegen Ortrud ein Kampf des Christentums gegen das Heidentum zu sein. Dabei verkörpert Lohengrin das Christentum, Ortrud das Heidentum. Bedenkt man jedoch die philosophischen Einflüsse Feuerbachs auf Wagner und deren Erscheinungsform in Lohengrin, 2

2 Vgl. Kapitel 4.
so ergibt sich ein Widerspruch3
3 Auch Wagner selbst sprach sich vehement gegen eine christliche Deutung aus (vgl. Kapp 1914, 117).
. Wenn Lohengrin nicht der christliche Gralsritter und Ortrud nicht die heidnische Zauberin ist, so könnte Ortrud, betrachtet man Lohengrin als Verkörperung des einsamen Künstlers Wagner, als Sinnbild einer aristokratischen oder auch bürgerlichen Umwelt gedeutet werden, zu der der einsame Künstler (Wagner) sich im Widerstand befindet (vgl. Csampai/Holland 1989, 225). Wagners Publikum bestand zum größten Teil aus Mitgliedern des Adels und des wohlhabenden Bürgertums. Wie das Handeln dieser Menschen, so Wagners Anklage, werde Ortruds Handeln angetrieben von einem Streben nach Erhaltung bestehender Machtverhältnisse, legitimiert durch Herkunft und Besitz.

In diesem Sinne äußerte er sich über die Figur Ortruds in einem Brief an Franz Liszt vom 30. Januar 1852: »[...] Es ist eine Liebe in diesem Weibe [Ortrud], die Liebe zu der Vergangenheit, zu untergegangen Geschlechtern, die


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