- 92 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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2 Biographische Interpretationsansätze

2.1 Das Weibliche und das Männliche in der Kunst

In Eine Mitteilung an meine Freunde äußert sich Richard Wagner über das »künstlerische Vermögen«. Der Künstler werde in seinem Schaffen von der »Kraft des Empfängnisvermögens« bestimmt. Aus der Menge der Eindrücke, die den Künstler vollkommen einnehmen, muss der Wunsch entspringen, anderen diese Eindrücke mitzuteilen. Wagner spricht von der »Kraft des Mitteilungsdranges.« (Kapp 1914, 74) Zunächst werde der Künstler von seinen Eindrücken bestimmt. Nehmen diese seine Empfängniskraft in dem Maße ein, dass er für die Lebenseindrücke nicht mehr aufnahmefähig sei, so entwickele sich der »absolute Künstler nach der Richtung hin [...], die wir als die weibliche, d.h. das weibliche Element der Kunst [...] zu bezeichnen haben.« Zu diesen Künstlern zählt Wagner die Mehrzahl der in seiner Zeit schaffenden, bedeutenden Künstler. Sie schaffen eine vom Leben »schlechtweg abgesonderte Kunstwelt in welcher die Kunst mit sich selbst spielt, vor jeder Berührung mit der Wirklichkeit – d.h. nicht nur der modernen Gegenwart, sondern der Lebenswirklichkeit überhaupt – empfindlich sich zurückzieht, und diese als ihren absoluten Feind und Widersacher [...] betrachtet.« (ebd., 75) In diesem Sinne gibt es keine Verbindung von Kunst und Lebenswirklichkeit. Beide beeinflussen sich nicht, sondern stehen losgelöst nebeneinander.

Diese Kunstrichtung lehnt Wagner ab. Er sieht sich einer anderen zugehörig, die er als »die männliche, zeugungsfähige Richtung« bezeichnet. Hier sei die Kraft für die Empfängnis von Lebenseindrücken nicht durch die künstlerische Empfängniskraft »geschwächt, sondern vielmehr im höchsten Sinne gestärkt.« Der Künstler betrachte die Welt nach künstlerischen Aspekten, die in seine Werke einfließen. Darüber hinaus wirken sie auf das Leben zurück, d.h. sie bieten eine Idee zur Veränderung oder Verbesserung der Wirklichkeit (vgl. Kapp 1914, 75). Wenn Wagner also von Einflüssen seiner Lebenswelt auf sein Werk spricht, so liegt es nahe, in der Werkinterpretation biographische Einflüsse zu ermitteln und herauszustellen.

2.2 Lohengrin als Sinnbild des einsamen Künstlers

Gemäß dem oben von Wagner selbst dargestellten künstlerischen Anspruch fühlte er sich unverstanden, sowohl vom Publikum als auch speziell von den Kritikern. Er sah sich in der Situation der »vollsten Einsamkeit als künstlerischer Mensch.« (ebd., 123) Auch Lohengrin ist einsam durch die erhöhte Stellung seiner Existenz. Er steigt von seiner Gralswelt hinab auf die Erde. Dabei hat er zwar menschliche Gestalt, ist jedoch von göttlicher Natur. Er gehört also nicht wirklich in die Welt, die er aufsucht. Wenn Wagner


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