- 78 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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und tadelt nicht, was ihm ans Herz gewachsen ist, namentlich nichts Altes, Bestehendes. Lobt auch das Neue nur erst dann, wenn es etwas in der Welt äußerlich erreicht hat [...] – zieht mir Vater hübsch in Euren Kreis und tanzt um ihn herum – kurz, sucht wieder einmal auszugleichen und auszuglätten [...].«  (Knaus (Hg.) 1947, 46f.)

Das Bild, das Felix hier zeichnet – »zieht mir Vater hübsch in Euren Kreis und tanzt um ihn herum« – legt die Assoziation zum goldenen Kalb Aarons (2. Mose 32) nahe, um das das Volk Israel herumtanzte. Ausschließlich Abrahams Anschauung zählte. Seine Launen bestimmten den Alltag selbst der erwachsenen Kinder. Man bedenke: Fanny war zu diesem Zeitpunkt als verheiratete Frau und Mutter in ihr eigenes Familienleben eingebunden, und Felix finanzierte seine Existenz durch Konzertreisen eigenständig. Abrahams Wunsch, auch über seinen Tod hinaus Einfluss auf seine Kinder nehmen zu wollen, fand seinen Niederschlag im Testament, das die Eheleute Mendelssohn Bartholdy 1833 errichtet hatten:

»Unsere wohlgesinnten, gutgearteten Kinder beglücken unser Leben durch unausgesetzte Beweise von Liebe und Gehorsam und werden, wir hoffen es zu Gott! auch einst unser Angedenken durch Einigkeit unter sich, Rechtlichkeit gegen Andere und kindlich gehorsame Anerkennung dieses unsres letzten Willens in Ehren halten. Sollten sie selbst jedoch oder ihre Descendenz mit dieser Disposition nicht zufrieden sein, und sich nicht unbedingt den darin enthaltenen Anordnungen unterwerfen, so soll das ungehorsame Kind bis auf den Pflichttheil hierdurch enterbt sein.«  (Lowenthal-Hensel 1990, 148; Hervorhebung d. Verf.)

Der Arm Abrahams war lang: Gehorsam war die erste Pflicht. Ungehorsam wurde bestraft, hier durch Enterbung! Felix hat diese Drohung gespürt. Ihr wollte er sich nicht vorbehaltlos beugen. Obwohl er bei der Testamentseröffnung zwei Tage nach dem Tod des Vaters zugegen war, gab er sein Einverständnis mit allen Bestimmungen erst nach zwei Wochen (vgl. Lowenthal-Hensel 1990, 148). Das Bewusstsein der Gehorsamkeitspflicht belastete Felix aber auch Fanny noch über Jahre hinaus fast bis zu ihrem Lebensende. Der Tradition folgend übernahm Felix im Laufe der Zeit allerdings die patriarchale Position des Vaters in der Familie. Sie drückte sich zum Teil sogar in der Übernahme der väterlichen Ansichten aus. Fanny, die sich in den letzten Jahren aus dieser Beklemmung zu lösen versuchte, und sich – die Publikation ihrer Werke betreffend – dem Willen des Bruders gebeugt hatte, schrieb dazu: »[...] denn lache mich aus, oder nicht, ich habe zu 40 Jahren eine Furcht vor meinen Brüdern, wie ich sie zu 14 vor meinem Vater gehabt habe [...].« (zit. nach Tillard 1996, 497 f.) Fanny emanzipierte sich allerdings von ihren männlichen Familienangehörigen und begann im Jahr 1846, zunächst


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