- 76 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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des Essens und der damit verbundenen Vorbereitung des Schabbaths und der Feiertage. Selbstverständlich hatte sie dafür zu sorgen, dass die Kinder die Speisegesetze erlernten und einhielten. Damit war die Frau Trägerin und Vermittlerin der komplizierten Ritualgesetze und hatte hierdurch eine wichtige Rolle in der jüdischen Religionspraxis.

Diese Aufwertung trug dazu bei, dass ihr ein bestimmter Machtbereich zugestanden wurde. Auch der Wert der Mutterrolle stieg und erfuhr allgemeine Anerkennung. Dennoch blieben ihr das Lernen und Lehren verwehrt. Dieser Bereich wurde wie bisher ausschließlich von den Männern vertreten. Damit behielt sie eine zweitrangige Stellung im Leben der Gemeinde, da sie von wichtigen Ämtern – zum Beispiel dem des Rabbiners – ausgeschlossen blieb. Hier kann man einen Bezug zur Familie Mendelssohn sehen, die eine ausgesprochen starke und enge Familienbeziehung pflegte. Sowohl Lea Mendelssohn als auch ihre Tochter Fanny Hensel fühlten sich – wie in vielen Tagebuchaufzeichnungen und Briefen ersichtlich – als ›Familienmütter‹ nicht nur im engeren Sinne. Auch später – die verheirateten Geschwister mit ihren Familien betreffend – fühlten sie sich dazu verpflichtet, die Beziehung untereinander zu pflegen, problematische Situationen aufzufangen und dadurch für ein harmonisches Familienklima zu sorgen.

Das Zeitalter der Aufklärung bewirkte, dass auch die Frauen verstärkt die wachsenden Bildungsangebote wahrnahmen. Das orthodoxe Judentum mußte sich der Situation stellen. Um den antireligiösen Strömungen entgegenzuwirken und zu verhindern, dass sich Frauen säkularen Studien zuwandten, begannen die traditionellen Juden, ihre bisherige konservative Haltung aufzugeben und ihre Vorstellung von der traditionellen Mädchenerziehung zu ändern. Dieser Prozess verlief indes sehr schleppend. Erst hundert Jahre später, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wurde ein jahrhundertealtes Verbot aufgehoben und geradezu zur Pflicht erklärt. Den Frauen stand nun das Thora-Studium – nicht nur in Ausnahmefällen – offen. In der Folge wurden zunehmend Mädchenschulen gegründet (Heuberger 1994, 12ff.).

Für die jüdischen Frauen, wie Fanny Hensel und schon für die Generation vor ihr mit Rahel Varnhagen, Dorothea Schlegel und Henriette Herz, kam dieses Gebot zu spät. Sie hatten sich längst aus den Verboten, aus der Enge der Traditionen und dem jüdischen Glauben gelöst, waren konvertiert und hatten sich das deutsche Kulturgut zu Eigen gemacht. Eine andere Interpretation lässt folgende Überlegung zu: Mit ihrer Überzeugung und ihrem Leben, das sie mehr oder weniger selbstbestimmt zu leben vermochten, übernahmen sie eine Vorreiterfunktion, die bezüglich der Rolle der Frau zum Aufbrechen der verkrusteten Formen im Judentum und auch in der christlichen Gesellschaft führte.


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