- 74 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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2 Die Stellung der Frau im Judentum

»Das Selbstverständnis jüdischer Frauen [...] kann [...] nur auf dem Hintergrund der Rolle der Frau im traditionellen, d.h. orthodoxen Judentum verstanden werden. Dieses war bis vor 200 Jahren die einzige Form jüdischer Religionsausübung und bildet immer noch die normative Basis, an der sich alle Entwicklungen innerhalb des Judentums messen müssen. Auch die modernen jüdischen Frauen, seien sie religiös oder säkulär, sind von dem über Jahrhunderte tradierten Bild der Frau und ihrer Rolle im orthodoxen Judentum geprägt und müssen sich mit diesem auseinandersetzen.« (Heuberger 1994, 8)

So beschreibt die Autorin Rachel Heuberger ein wesentliches Element der Identität jüdischer Frauen und bezeichnet damit den Ausgangspunkt, an dem die Auseinandersetzung mit der Erziehung Fanny Hensels beginnen muß. Will man ihre Persönlichkeit und die Beweggründe für ihr Handeln verstehen, sollte man sich mit diesem Aspekt – der traditionellen Rolle der Frau im Judentum – auseinandersetzen.

Thora und Talmud sind die heiligen Schriften, die für das orthodoxe Judentum die Worte Gottes darstellen. Sie dürfen nicht verändert werden und besitzen folglich heute die gleiche Gültigkeit wie früher. Sie bilden die Grundlage für die Festlegung des Rollenverständnisses von Mann und Frau. »Und Gott schuf den Menschen in seinem Bilde, im Bilde Gottes schuf er ihn; als Mann und Weib schuf er sie.« (1. Mose 1, 27) In diesem Vers, der einem der beiden Schöpfungsmythen in der Heiligen Schrift entnommen ist, wird die Frau zwar als gleichwertiges Wesen verstanden, hat aber eine andere Funktion als der Mann.

Das orthodoxe Judentum weist Mann und Frau verschiedene Rollen zu. Sie stehen nicht gleichberechtigt nebeneinander, sondern werden komplementär verstanden. Frauen und Männer werden nicht als ungleich, sondern nur als unterschiedlich verstanden, da nach der theologischen Grundauffassung ›vor Gott alle Menschen gleich sind‹. Somit bestehen keine Werthierarchien. Die Rolle des Mannes beinhaltet allerdings die Andersartigkeit des Geschlechtes, die damit verbundene Verpflichtung des Lernens und die im alltäglichen Leben begründete soziale Realität. In wirtschaftlicher, sozialer und gesetzlicher Hinsicht, sowie auch in der religiösen Rolle und Bedeutung, stehen Frauen in der Abhängigkeit der Männer. Die verkündete Gleichheit beschränkt sich ausschließlich auf die moralische und geistige Ebene, findet sich jedoch nicht im konkreten Alltagsleben. Rachel Heuberger folgert daraus, dass die unvereinbaren Gegensätze von ›religiöser Gleichwertigkeit‹ und ›realer Diskriminierung‹ sowie die Möglichkeit unterschiedlicher Interpretationen der Gesetze dazu geführt haben, den patriarchalischen Charakter


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