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Die Stellung der Frau im Judentum
»Das Selbstverständnis jüdischer Frauen [...] kann [...]
nur auf dem Hintergrund der Rolle der Frau im traditionellen, d.h. orthodoxen
Judentum verstanden werden. Dieses war bis vor 200 Jahren die einzige Form
jüdischer Religionsausübung und bildet immer noch die normative
Basis, an der sich alle Entwicklungen innerhalb des Judentums messen müssen.
Auch die modernen jüdischen Frauen, seien sie religiös oder säkulär,
sind von dem über Jahrhunderte tradierten Bild der Frau und ihrer Rolle
im orthodoxen Judentum geprägt und müssen sich mit diesem auseinandersetzen.« (Heuberger
1994, 8)
So beschreibt die Autorin Rachel Heuberger ein wesentliches Element der
Identität jüdischer Frauen und bezeichnet damit den Ausgangspunkt,
an dem die Auseinandersetzung mit der Erziehung Fanny Hensels beginnen muß.
Will man ihre Persönlichkeit und die Beweggründe für ihr Handeln
verstehen, sollte man sich mit diesem Aspekt – der traditionellen Rolle der
Frau im Judentum – auseinandersetzen.
Thora und Talmud sind die heiligen Schriften, die für das orthodoxe
Judentum die Worte Gottes darstellen. Sie dürfen nicht verändert
werden und besitzen folglich heute die gleiche Gültigkeit wie früher.
Sie bilden die Grundlage für die Festlegung des Rollenverständnisses
von Mann und Frau. »Und Gott schuf den Menschen in seinem Bilde, im
Bilde Gottes schuf er ihn; als Mann und Weib schuf er sie.« (1.
Mose 1, 27) In diesem Vers, der einem der beiden Schöpfungsmythen in
der Heiligen Schrift entnommen ist, wird die Frau zwar als gleichwertiges
Wesen verstanden, hat aber eine andere Funktion als der Mann.
Das orthodoxe Judentum weist Mann und Frau verschiedene Rollen zu. Sie
stehen nicht gleichberechtigt nebeneinander, sondern werden komplementär
verstanden. Frauen und Männer werden nicht als ungleich, sondern nur
als unterschiedlich verstanden, da nach der theologischen Grundauffassung
›vor Gott alle Menschen gleich sind‹. Somit bestehen keine Werthierarchien.
Die Rolle des Mannes beinhaltet allerdings die Andersartigkeit des Geschlechtes,
die damit verbundene Verpflichtung des Lernens und die im alltäglichen
Leben begründete soziale Realität. In wirtschaftlicher, sozialer
und gesetzlicher Hinsicht, sowie auch in der religiösen Rolle und Bedeutung,
stehen Frauen in der Abhängigkeit der Männer. Die verkündete
Gleichheit beschränkt sich ausschließlich auf die moralische
und geistige Ebene, findet sich jedoch nicht im konkreten Alltagsleben. Rachel
Heuberger folgert daraus, dass die unvereinbaren Gegensätze von ›religiöser
Gleichwertigkeit‹ und ›realer Diskriminierung‹ sowie die Möglichkeit
unterschiedlicher Interpretationen der Gesetze dazu geführt haben, den
patriarchalischen Charakter
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