Sigrid Dege
Erziehung zwischen Tradition und
Aufklärung – Die Persönlichkeit
Fanny Hensels
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Einleitung
Lange Zeit wurde Fanny Hensel nur als Schwester des Komponisten Felix Mendelssohn
Bartholdy wahrgenommen. Die vier Jahre ältere Fanny stand im Schatten
ihres Bruders, obwohl sie die gleiche Musikerziehung genossen hatte wie er.
Wenngleich sie sich selbst nie als Komponistin oder Berufsmusikerin bezeichnete,
galt sie für ihre Umgebung als ›gleichbegabt‹.
›Sanft und engelsgleich‹: Das war das Bild der Frau, das in der patriarchalischen
und männerdominierten Gesellschaft des Biedermeier zu Beginn des 19. Jahrhunderts
vorherrschte. Eine eigenständige Persönlichkeit wurde der Frau
im öffentlichen und gesellschaftlichen Leben nicht zugestanden. Im Rahmen
der Erziehung spielte die patriarchalisch geprägte Familienstruktur
eine herausragende Rolle. Es galten letztlich die Entscheidungen des Vaters,
Bruders oder Ehemannes. Ausdrücklich berücksichtigt werden müssen
zudem die traditionellen Ansichten der Familie Mendelssohn, die in den kulturbedingten
Werten der Juden wurzelten.
Damit ist ein Spannungsfeld angesprochen, das die Problematik vieler kreativer
und kunstschaffender Frauen in dieser Zeit kennzeichnete. In ihm muß
sich eine Beschreibung der Frau Fanny Hensel bewegen. Auf der einen Seite
das Bild der hochgebildeten, selbstbewußten Frau, die ihre literarischen
und musikalischen Interessen pflegte, andererseits das private, häusliche
Umfeld, das ihr zugestanden wurde.
Die Annäherung an die Persönlichkeit Fanny Hensels soll sich
in diesem Aufsatz auf ihre Erziehung im Elternhaus sowie ihre Beziehung zu
ihrem Bruder Felix beschränken. So bleibt zu fragen, inwiefern die Gründe
des aufgezeigten Spannungsfeldes in ihrer Erziehung zu eruieren sind und
wieweit diese Erziehung die Entwicklung ihrer Persönlichkeit beeinflußte.
Zunächst aber soll ein Überblick über die Stellung der Frau
im Judentum gegeben werden, der meiner Ansicht nach als fundamental angesehen
werden muß für die folgenden Abschnitte.
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