- 60 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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eine Rolle und eine besondere Affinität zu der Musik Witold Szaloneks: »Sie hat mein Herz sehr berührt und das Gefühl von damals erweckt; sie ist irgendwie anders als die alltägliche Musik. Das ist nichts Konkretes sondern ein Gefühl, das mir wieder ins Bewußtsein kam, als ob man ein Musikstück wiederhört, das man als Kind gerne gehört hat.«

Der Gefühlsausdruck in den Kompositionen ist für ihn grundlegend für sein Musizieren und Interpretieren. Beim musikalischen Ausdruck von Emotionen will man manches offenbaren, etwa beim gesungenen crescendo den Klang nach vorn tragen oder beim Schluß entsprechend zurückgehen. Doch gilt es immer wieder abzuwägen, damit nicht durch ein extrovertiertes Nachgeben der musikalische Eindruck für andere, für die Zuhörer, kaputt gemacht wird: Musikalische Spannungen können leicht brüchig werden. Bei der Berceuse von Witold Szalonek ist es ein langer Weg, der mit den Sechzehntelnoten beginnt, zum Höhepunkt des Stückes zu kommen.

»Manchmal möchte ich noch früher das accelerando beginnen und die Steigerung noch stärker zum Ausdruck bringen, doch kann es dabei geschehen, daß zwar für mich dieser musikalische Augenblick beflügelnd zu spielen ist, für die Zuhörer das Spiel dann jedoch übertrieben und dadurch ernüchternd wirkt; außerdem verzerrt es offensichtlich die Konzeption des Stückes, wie sie in den Noten festgehalten ist.«

So genau die Musik in ihrem Ablauf konstruiert ist, so großzügig räumt der Komponist Interpretationsfreiheiten ein. Er regt zwar anfangs einen Wechsel von Lautstärken (p und mp) an, läßt dann aber dem Interpreten die weitere, analoge Ausführung offen. Mit dem Takt 62 gibt es wieder einen Hinweis zur Lautstärke, nämlich mit einem crescendo beginnend die Steigerung zum forte. Auch die Metronom-Angabe, eine Viertelnote etwa im Tempo von 56 bis 58 Schlägen in der Minute zu spielen, ist zu relativieren, da einerseits etliche Eintragungen im Notentext auf agogische Interpretationen verweisen und andererseits impressionistische Klangwirkungen hervorgerufen werden sollen (T. 30–31).

Auf die Nachfrage nach dem Titel Berceuse , durch den der Musik eine funktionelle Bedeutung zuwächst, knüpft Mototsugu Harada an den anfänglichen Vergleich mit der Berceuse von Frederik Chopin an. Während hier der Charakter eines Wiegenliedes nicht nur im wiegenden Metrum, sondern auch in den Tonfiguren beibehalten, also eine einschläfernde Funktion mit allen Gefühlsaufwallungen gegeben ist, weckt die Berceuse von Witold Szalonek bei ihm eher die Vorstellung an jemanden, der sich zu Bett legen will, um ruhig den Alltag zu beenden, jedoch durch Rückerinnerungen an den vergangenen Tag und andere Ereignisse daran gehindert ist. Es stellen sich beunruhigende Erinnerungen ein, lassen die Gedanken um immer gleiche


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