- 45 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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Motivende jedoch erfährt eine kleine Erweiterung als Auswirkung der vorherigen rhythmischen Beschleunigung. Anstelle der zu erwartenden Quarte es-b erkennen wir nunmehr die kleine Terz es- c mit nachfolgendem kleinen Sekundschritt c-h; diese motivische Verlängerung ist insofern von Bedeutung, als der Halbtonschritt ein weiteres, sich durchaus partiell verselbständigendes Element darstellt (z. B. in Takt 5–6 Oberstimme des Klaviersatzes: h-ais-h-gis-a-gis/g-ges-f).

Ähnlich wie im ersten Lied entfalten sich mikrokosmisches Material und seine Möglichkeiten im einleitenden Klaviersatz. Auch nimmt das gesamte nachfolgende kompositorische Geschehen in seinen intervallischen, harmonischen wie auch rhythmischen Strukturen auf diese mikrokosmischen Zellen und ihre direkten Ableitungen Bezug und offenbart sich als deren Differenzierung und Variante. Durch die Relation zu immer demselben Grundmodell wirken zentripetale Kräfte. Im Zug zur Differenzierung und Variation wirken zentrifugale Kräfte. Die zuvor dargelegten dialektischen Wirkkräfte der literarischen Vorlage finden in der kompositorischen Gestaltung ihren Niederschlag.

2. Die Ökonomie der Mittel: Diese dokumentiert sich einerseits in der strikten Reduktion der Menge motivischen Materials (vgl. Punkt 1), andererseits in der Schwere, Dichte und Kompaktheit vermeidenden Satzanlage. Die von der Textvorlage zeitweilig geforderte dramatische Expression wird in der Gesangsstimme wirkungsvoll durch Vermehrung des Einsatzes großer und sehr großer Intervalle, Steigerung dynamischer Intensität sowie Aufbau einer großen Linie zu einem umfassenden Spannungsbogen erreicht, welcher erst gegen Ende seine Auflösung erfährt. Im Klavierpart manifestiert sich der Aspekt des Dramatischen ohne Beschwerung des musikalischen Satzes durch Erweiterung des Ambitus in Verbindung mit einer Akzeleration der Bewegungsabläufe, deren intervallische und rhythmische Strukturen den Anfangstakten entnommen sind. Dramatische Expression und verhaltene Spannung bezeichnen die beiden Pole, zwischen denen sich die Empfindungen der Dichterin bewegen. Dieses dialektische Spannungsverhältnis von »Manie« und »Melancholie« (Lægreid, 68) findet in der Komposition seine Widerspiegelung einerseits durch das unter Punkt 1 erwähnte dialektische Verhältnis struktureller Faktoren, andererseits durch Expansion und Kontraktion des musikalischen Satzes.

Das dritte Lied des vorliegenden Zyklus beginnt wiederum mit der Exposition motivischen Materials, welches sich als konstitutiv für das nachfolgende kompositorische Geschehen erweist: eine in sich differenziert gestaltete ›quasi-Cello-Kantilene‹ erfährt ihre charakteristische Ausprägung durch eine chromatisch verschobene Wechselnote (des-es-d) mit nachfolgender fallender chromatischer Linie (d-cis-c-h). Eine große Terz (h-g) und zwei sich


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