- 44 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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nur Traumhaften der Erinnerung« (ebd. 101) als »Vorgang der Vergegenwärtigung« (ebd. 89) bedeutet

»Überblendung von Jetztzeit und Gewesenem, die Benjamin die ›Dialektik im Stillstand‹ nennt. Sie ist nicht allein von temporaler vielmehr von topographisch-bildlicher Natur und ist als Komplexität das dialektische Bild, das mythische und unbewußte Momente nicht verdrängt, sondern in sich aufnimmt und zum Gegenstand der Reflexion macht.« (ebd. 89)

Das zweite Gedicht Weltflucht, das früheste dieses Zyklus, steht in dialektischer Bewegung zwischen der Grundstimmung feiner Melancholie des ersten und der tiefen Resignation des dritten und vierten Liedes. Schon die äußere formale Anlage – der Wechsel langer und kurzer Zeilen, die Strophenlosigkeit, Gedankenstriche, insbesondere aber zahlreiche Interjektionen – läßt auf eine besondere immanente Spannung dieses Gedichtes schließen, welche sich immer wieder durch Ansätze einer eruptiv-verzweiflungsvollen Klage manifestiert, worin das Ich »sein Gefühl der Bedrohung durch den großen Anderen als ›Ihr‹ und ›Euch‹« (Lægreid, 67) zum Ausdruck bringt.

Die dialektisch wirkenden zentrifugalen und zentripetalen Kräfte der musikalischen Komposition des vorangehenden Liedes konstituieren auch die musikalischen Strukturen des zweiten Liedes und korrespondieren auf diesem Wege mit jenen der lyrischen Vorlage, welche als »Dialektik von Aggression und Regression« (Lægreid, 66) – diese »ist eine zentrifugale und zentripetale Bewegung, welche die Frustration und das Gefühl der Bedrohung des Ich zugleich darstellt« (ebd.) – , als Dialektik von »Verwirrung und Entwirrung« (Lægreid, 67) bzw. »Expansion und Kontraktion« (ebd.) zu Tage treten.

Brunhilde Sonntags Vertonung dieses Gedichtes zeichnet sich durch zwei essentielle Aspekte aus:

1. Die Dialektik zentrifugaler und zentripetaler Spannung. Die dialektisch wirkenden Kräfte der literarischen Vorlage erfahren auch in dieser Komposition ihre Transformation in die Sprache des Musikalischen. Das auftaktige Kurzmotiv des Anfangs – Quarte und große Sekunde mit nachfolgender Quarte in aszendierender Richtung als Achteltriole mit nachfolgender Viertelnote – unterliegt schon im ersten Takt angreifenden Veränderungen: Bei doppelter Beschleunigung weitet sich die Quarte zum Tritonus aus, während die große Sekunde erhalten bleibt und die aufwärtsgerichtete Quarte zum abwärtsgerichteten Tritonus umgebogen wird. Doch erweist sich auch eine gewisse Beharrungstendenz der ersten Erscheinungsform als wirksam, allerdings bei umgekehrter Bewegungsrichtung; intervallisch bleiben die Anfangsquarte (hier: b-f) und auch die große Sekunde (hier: f-es) erhalten, das


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