- 43 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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durch aufwärtsgerichtete Bewegungstendenz definiert werden. Diesem Kurzmotiv gesellt sich eine aus ihm selbst abgeleitete abwärtsgerichtete Gegenstimme hinzu (einsetzend auf dem Punkte des rhythmischen Bewegungsstaus) als Variante der Quarte des Hauptmotives, welche, zur Quinte umgekehrt, mit nachfolgender ebenfalls fallender Quarte in Erscheinung tritt. Diese beiden sich rhythmisch zueinander komplementär verhaltenden Kurzmotive bilden die Basis der wiegenden, schwingenden, die Abläufe des ersten Liedes prädominierenden Grundbewegung.

Unter dem Aspekt harmonischer Konstellationen offenbart sich das erste Kurzmotiv als Bestandteil des reinen es-moll, welches klangliche Verschärfung erfährt durch den Quint-Quartklang a-d-a; im zweiten löst sich diese bitonal wirkende harmonische Spannung durch Angleichung der Tonalität des zweiten Kurzmotives auf – dieses erscheint nun ebenfalls auf der Basis der Tonalität des ersten Kurzmotives, allerdings, an die vorhergehende harmonische Spannung erinnernd, nunmehr nicht in einheitlich abwärtsgerichteter Tendenz, sondern in Form einer sanften Krümmung, so daß die Welle eine Differenzierung in sich erfährt.

Takt 3 nimmt direkten Bezug auf Takt 1. Das zweite Kurzmotiv erscheint diesmal als in Bewegung aufgelöster Dv von c-moll (ohne Septime), wodurch wieder bitonale Verhältnisse hergestellt werden. Takt 4 tritt als leichte Variante des zweiten Taktes unter Beibehaltung der dort vorhandenen tonalen Verhältnisse hervor. Nach einer aufwärtsgerichteten chromatischen Rückung des ersten Kurzmotives setzt in Takt 5 die Gesangsstimme ein.

Insgesamt erweist sich das nachfolgende musikalische Geschehen als Variation und Differenzierung dieser einleitenden vier Takte, welche sich ihrerseits, wie vorangehend bereits deutlich exponiert, aus dem viertönigen anfänglichen Kurzmotiv herausschälen. Dieses entfaltet bei rhythmischer und zunächst auch intervallischer Beständigkeit im Parameter der Harmonik von Anfang an seine zentrifugalen Kräfte: chromatische Rückungen des Motives selbst, bitonale Konstellationen und großflächig vagierende Tonalität stehen als raumgreifende, raumerweiternde Faktoren in spannungserzeugendem Gegensatz zum quasi ostinaten Beharrungsvermögen des wiegenden Hauptmotivs; zentrifugale und zentripetale Kräfte entfalten in unterschiedlichen Stärkegraden ihre Wirkung – der Drang nach Außen und zugleich der Zug zum Verweilen im Innern bestimmen die Entwicklungstendenzen dieser Komposition.

Diese fein ausgewogenen dialektischen Wirkkräfte stehen in Korrespondenz mit jenen der literarischen Vorlage, welche als Dialektik von »Erkenntnis und Erinnerung«, als »Bewußtwerdung des Vorbewußten« (Lægreid, 100) die inneren Spannungsverhältnisse konstituiert: »Das Bewußtwerden vom


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