- 40 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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Hochstimmung bis zum Überschwang, ironisch-sarkastischer Witz, Resignation, zarte Trauer, nihilistische Tendenzen und tiefe Gläubigkeit, Flucht in mythisch-phantasmagorische Welten, in Traumwelten als radikaler Gegenentwurf zur Armseligkeit der eigenen realen Existenz, geistig-seelische Überfülle vor dem Hintergrunde oftmals höchster materieller Not, ausgeprägte Egozentrik und überfließender Altruismus, heftiges Mitleiden bis zur Selbstaufgabe, höchste Sensibilität in der Beziehung zum Mitmenschen und zugleich paranoide Züge – all diese inneren und äußeren Kräfte, Seinszustände und geistig-seelischen Befindlichkeiten konstituieren das lyrische Gesamtwerk dieser Dichterin, welches in seiner radikalen Subjektivität seinesgleichen sucht. Lasker-Schülers alogisch-assoziatives, synthetisches Denken – eher ein Verinnerlichen – zerreißt die Dreidimensionalität gerichteten Denkens und schlägt somit an die Wurzeln der mittlerweile defizient-rationalen, patriarchalischen Kultur, deren Ausdrucksform der Logos ist: es ist nicht auszuschließen, daß gerade dieser Tatbestand in Verbindung mit dem primitiv-rassistischen Aspekt die extrem gehässigen Reaktionen nationalsozialistischer Kulturfunktionäre und ihrer Exekutivorgane auf das Lasker-Schülersche Œuvre evoziert hat. Möglicherweise liegt die tiefere Ursache der nationalsozialistischen Bücherverbrennung – für die Täter unbewußt – in der Vernichtung des weiblichen Aspektes menschlichen Denkens, dessen Eindringen in die Literatur erst die umfassenden supranational wirkenden, strukturellen, poetisch-sprachlichen und klanglichen Neuerungen ermöglichte: nicht die Leiblichkeit der Hexe fällt diesmal dem Feuer anheim, sondern der weibliche Aspekt menschlichen Denkens schlechthin. Else Lasker-Schüler wurde im Jahre 1869 in Wuppertal-Elberfeld als Tochter des jüdischen Bankiers Aron Schüler und seiner Ehefrau Jeanette Sonnemann geboren. Die glückliche, gesegnete Kindheit und Jugend in einem künstlerisch inspirierten Milieu erwies sich während zahlloser profunder Lebenskrisen und Katastrophen als stete Quelle der Kraft und Hoffnung; dennoch läßt die Selbstbiographie der Dichterin Verzweiflung als Lebensgrundhaltung erkennen, deren Schärfe sie durch Flucht in phantasmagorische Welten zu lindern trachtet: »Ich bin in Theben (Ägypten) geboren, wenn ich auch in Elberfeld zur Welt kam im Rheinland. Ich ging bis 11 Jahre zur Schule, wurde Robinson, lebte fünf Jahre im Morgenlande und seitdem vegetiere ich.« (Menschheitsdämmerung, 302) In diese mythenverhafteten Traumwelten der Dichterin finden ihre zahllosen Freunde und Bekannten – vielfach die größten künstlerischen Exponenten ihrer Zeit – nach wundersamer Transformation ihrer Existenz Eingang: so Franz Marc als »blauer Reiter«, Karl Kraus als »Cardinal« oder Franz Werfel als »Prinz von Prag« und Gottfried Benn als »König Giselheer«.

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