- 391 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
  Erste Seite (2) Vorherige Seite (390)Nächste Seite (392) Letzte Seite (422)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

Komponistenporträts. Die Möglichkeit, die Musikvermittlung neben der Beachtung der Sache auch durch eine schülerorientierte und schülergerechte Zugangsweise zu optimieren, entspricht einer modernen und inzwischen allgemein anerkannten Musikdidaktik. Schülerinnen und Schülern wird durch die Konfrontation mit biographischen Elementen die Möglichkeit gegeben, ihre Lebensumstände und Lebensorientierungen mit denen einer anderen – ähnlichen bis unvergleichlichen – Lebenswirklichkeit in Bezug zu bringen. Auf diese Weise wird eine kommunikative Auseinandersetzung mit sich, aber auch mit einer Musik, die jetzt realen Person zugeordnet werden kann, initiiert.

Dass auch der Hörer von Musik eine Biographie einzubringen hat, ist von der Musikpädagogik unter Betonung des überzeitlichen Kunstwerkcharakters lange unbeachtet geblieben, inzwischen ist dies eine unbestrittene Determinante des Unterrichts; der Horizont von Schülerinnen und Schülern, ihre Lebenswelt, ihre individuellen und sozialen Bezüge oder wie immer man es nennen mag, ist konstituierende Bedingung des Unterrichts, die jedoch nicht nur in den Vorabplanungen von Lehrerinnen und Lehrern eine Rolle spielen darf, sondern genauso im praktischen Unterrichtsgeschehen zu thematisieren ist. In der Konfrontation des eigenen Lebens mit fremden Lebensentwürfen, die in rudimentären bis umfassenden Teilen der Musik zum Ausdruck kommen, erhält die Auseinandersetzung mit historischen, ethnischen oder sozialen Musikkulturen eine weitere Perspektive. Hier lassen sich auch alternative Wege der Musikvermittlung aufzeigen, in denen alle Felder der systematischen Musikwissenschaft in den Unterricht einfließen können; an Bedeutung gewinnt unter dieser Perspektive das Vorverständnis von Musik, die Hörumstände, die die Musikrezeption bedingen, die Bedeutung sozialer und individueller Einflüsse auf das Verständnis von Musik u.v.a.m.

Auch die didaktische Aufarbeitung biographischer Inhalte hätte sich an solchen Unterrichtsmöglichkeiten zu orientieren. Die begleitende Informationsvermittlung, die in Daten und Fakten stehen bleibt und häufig noch weniger ist als ein Gerüst zur Einordnung von Musikwerken, greift hier zu kurz. Statt dessen muss für den Unterricht der sozialbiographische Aspekt, der das Leben des Einzelnen in einen umfassenden Kontext stellt, mitbeachtet werden. In dieser Ergänzung wird der individuelle, unwiederholbare und einzigartige Charakter eines Lebens für den Betrachter fruchtbar gemacht. Das »musikalische Genie« ist in seinen überzeitlichen und verallgemeinerbaren Bedingungen eben auch ein Mensch.

In die historischen Wissenschaften ist die Sozialgeschichte und mit ihr die Sozialbiographie längst integriert. Die Oral History bemüht sich um ein erweitertes Verständnis von Vergangenheit, das mit dem Schlagwort ›Geschichte von unten‹ belegt wird; die Retrospektive zeigt demnach eine


Erste Seite (2) Vorherige Seite (390)Nächste Seite (392) Letzte Seite (422)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 391 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft