- 300 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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was in Anatomic Safari von Per Nørgard besonders stark ausgeprägt, aber auch Bestandteil mehrerer anderer Werke ist (z.B. in Petr Fialas Aphorisms). Nørgard widmet verschiedenen Geräuschen einzelne Sätze. (Eine genaue Analyse der Anatomic Safari bietet Romald Fischer.) Kompositionen werden z.T. in graphischer Notation dargestellt. Juraj Pospisil schuf mit seinem Recitativo ed Aria op. 20 1965 eine der ersten freitonalen Akkordeonkompositionen. Bemerkenswert ist, daß der Komponist bei einem, die Tonalität betreffend und aus der Perspektive der Akkordeonisten betrachtet, so ›fortschrittlichen‹ Werk das traditionelle Begriffspaar ›Rezitativ und Arie‹ verwendet, das in der Instrumentalmusik des 20. Jahrhunderts kaum noch eine Rolle spielt. Hintergrund hierfür mag die noch nicht sehr weit entfernte Beziehung der Akkordeonliteratur zu historischen Formen des Barock und der Klassik sein, obgleich hier einzuwenden wäre, daß auch bereits Schönberg und andere Komponisten freitonalen Werken durch Titel, die an Barock oder Klassik erinnern, historischen Bezug verleihen. Aber auch bezüglich der Form erkennt man Abweichungen, mit denen sich der Komponist über Konventionen, die mit dem Begriffspaar verbunden sind, hinwegsetzt. Wenngleich eine grobe Dreiteiligkeit der Arie erkennbar ist – allerdings nicht im Sinne einer ABA-Form – so ähnelt sie in ihrem Charakter relativ stark dem vorausgehenden Rezitativ. Prägend ist der Improvisationsgedanke. Dies trifft insofern zu, als das Moment der Tondauern relativ ist, indem innerhalb bestimmter Zeitabschnitte die vorgegebenen Noten zu realisieren sind, vergleichbar mit Witold Lutoslawskis Jeux Vénitiens (1961). Damit könnte das Werk in die Nähe des Begriffs des Materialexperiments gerückt werden, allerdings nur in die Nähe dessen, weil es z.B. mit der von John Cage entworfenen Zufallskomposition Variations nicht so ohne weiteres Gemeinsamkeiten aufweist. Die improvisatorische Freiheit besteht nur auf dem Gebiet des Rhythmus, wobei auch hier einschränkend hinzugefügt werden muß, daß dieser aufgrund der Vorgaben des Komponisten nicht einer völligen Interpretenfreiheit unterliegt. Die durch die kompositorische Anlage gewonnene Erweiterung des musikalischen Materials entspricht den Bestrebungen der Zeit nach der Auflösung der traditionellen Form. Gleichzeitig wird durch die Verwendung des traditionellen Begriffspaares im neuen Kontext eine Art zeitlicher Grenzenlosigkeit angedeutet, die ein Kennzeichen der Moderne zu sein scheint, sieht man sich vergleichbare Literatur für andere Besetzungen an (z.B. Mauricio Kagel: Ludwig van). Vergangenheit bzw. Tradition wird in die Gegenwart projiziert und vermischt. Daraus wird deutlich, daß die Gegenwart aus der Vergangenheit erwachsen und in sie eingebunden ist.

Neben der Atonalität fanden auch Serialismus und Aleatorik in den sechziger Jahren in der Akkordeonliteratur Verwendung, die neben Padros‘ Trama concentrica nicht zuletzt Kagel in seine Akkordeonwerke einbezieht. Die


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