- 253 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
  Erste Seite (2) Vorherige Seite (252)Nächste Seite (254) Letzte Seite (422)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

Die sowjetische Begeisterung und Schnittkes wesentlich später veröffentlichte Erklärung, ihm habe die Evangeliengeschichte vorgeschwebt, widersprechen sich streng genommen nicht; denn nimmt man diese – etwas schablonenhafte – Programmatik ernst, dann offenbart sich darin eine ästhetische Haltung, die für allgemein konservative Positionen und besonders für den Standpunkt der sowjetischen Kunstauffassung, des Sozialistischen Realismus, durchaus charakteristisch ist: Ältere Verfahrensweisen, die mit Konsonanz, Tonalität, etablierten Formen oder, wie Schnittke es sagt, mit »linear-thematisch« umschrieben werden können, gelten als »positiv«, als »gut«, auch in moralisch-ethischem Sinne. Traditionell moderne Techniken dagegen, für die Dissonanz, Atonalität, freie Formenbildungen, mit Schnittkes Worten Pointilistik und Aleatorik stehen können, werden mit »negativ«, mit »böse« assoziiert, ebenfalls auch in moralisch-ethischem Sinne; entsprechend sind sie in der Sowjetunion von offizieller Seite geradezu verteufelt worden. Seit den 1930er Jahren war es daher üblich, daß Komponisten, die etwa atonale oder dodekaphone Passagen in ihre Werke aufnahmen, dazu erklärten, sie hätten die »negativen Seiten des Lebens« darstellen wollen. Ob Schnittke diese Anschauung bewußt oder unbewußt weiterführt und damit spezifische Verfahrensweisen des 20. Jahrhunderts nolens-volens moralisch verurteilt, oder ob er sich im Interesse der religiösen Idee, die dem Konzert zugrunde liegt, gezielt über diese sowjetische Tradition hinwegsetzt und die Übereinstimmung in Kauf nimmt, läßt sich nicht entscheiden.

Nicht von solcher Problematik berührt werden Kompositionen, zu denen Schnittke keine imaginären Szenerien formuliert hat, von denen man aber weiß, daß sie auf Zitaten aus der orthodoxen Liturgie beruhen. Dies sind, soweit bekannt, die vier Hymnen (1974–1979) und das zweite Streichquartett (1980). Zu den Hymnen bemerkt Schnittke, sie seien, anders als die vierte Symphonie, »nicht mit religiöser Motivation verbunden, [...] da hatte ich lediglich den Wunsch, das Intonationssystem der alten russischen Kirchenmusik zu imitieren, von dem mir Juri Buzko und Wladimir Martynow erzählt hatten.« (Iwaschkin, 96) Diese beiden Komponisten hatten Schnittke offenkundig auf ein Buch aufmerksam gemacht, das der Kirchenmusik-Forscher Nikolaj Uspenskij 1968 unter dem leicht irreführenden Titel »Beispiele altrussischer Gesangskunst« veröffentlichen konnte.10

10 Nikolaj Uspenskij: Beispiele altrussischer Gesangskunst, russ., Leningrad 1968, 21971. Zitate nach der zweiten Auflage.
Diese im sowjetischen Kontext jener Jahre singuläre Publikation ist eine sorgfältig kommentierte und systematisch nach Gattungen und Kirchentönen aufgebaute Sammlung

Erste Seite (2) Vorherige Seite (252)Nächste Seite (254) Letzte Seite (422)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 253 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft