An anderer Stelle spricht Schnittke explizit von »vier Glaubensbekenntnissen«,
die er stilistisch mit Anklängen an den altrussischen Zeichengesang (Znamenyj
raspev), an den lutherischen und den gregorianischen Choral sowie an den
jüdischen Synagogalgesang verbinden wollte.5
Daß die Rosenkranz-Idee als ein inneres Programm der Symphonie fungiert
und darüber hinaus die Formbildung prägt, hat Schnittke ausführlicher
in seinen Gesprächen mit Alexander Iwaschkin dargelegt.6
6
Alfred Schnittke: Über das Leben und die Musik. Gespräche
mit Alexander Iwaschkin, deutsch von Irene Ueberwolf, Düsseldorf 1998,
S. 89 – im weiteren als Iwaschkin (russische Ausgabe, Moskau 1994).
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Schnittkes Erläuterungen zum zweiten Violinkonzert7
7
Das Werk ist kammermusikalisch besetzt, jeweils ein Holzbläser
und ein Blechbläser, ohne Tuba, Schlagzeugpart (zwei Spieler), Klavier
und insgesamt zwölf Streicher; die Uraufführung fand am 20. Februar
1968 in Leningrad statt. |
lauten:
»Aus dem Konzept des Werkes (die Darstellung des Evangeliums)
ergibt sich eine bestimmte Klangfarbendramaturgie:
Solist und Streicher (Jesus und
seine Jünger) werden linear-thematisch
behandelt, Bläser und Schlagzeug (feindselige Menge, Kriegsknechte)
aggressiv punktuell oder aleatorisch. Der
Kontrabaß (Judas) hat die besondere
Rolle eines karikierenden ›Antisolisten.‹«
(Festschrift, S.
94)
Ein Instrumentalkonzert als Evangelium-Exegese – dies öffentlich zu
formulieren, wäre in der Sowjetunion der späten 1960er Jahre undenkbar
gewesen. Was die sowjetischen Hörer und Komponistenkollegen an dem Werk
wahrnahmen und was sie begeisterte, fassen Valentina Cholopowa und Jewgenija
Tschigarjowa8
8
Valentina Cholopowa und Jewgenija Tschigrajowa: Alfred Schnittke.
Skizze des Lebens und Schaffens, russ. Moskau 1990, S. 47f. – im weiteren
als Cholopowa und Tschigrajowa. |
mit vollmundigen Worten zusammen, wobei sie die programmatische Idee genau
beschreiben, ohne sie zu konkretisieren:
»Das zweite
Konzert mit seiner starken,
gehaltvollen Konzeption besitzt eine äußerst scharfe
Dramaturgie, eine theatralische Anschaulichkeit
der Bilder, so daß die Instrumente
zu Bühnenhelden werden. Die Konzeption, die durch die
brennende Expressivität des zweiten Konzerts zum Vorschein kommt,
bewegt sich im Kreis der ewigen Themen der
Kunst: die große Tat, Opfern, Leiden,
Verrat, Prüfung, Katastrophe, das Wiederfinden noch
größerer Kräfte und die erneute Bereitschaft zur Tat.«
Eine solche Programmatik umschreibt exakt das Ideal sowjetischer Musik; entsprechend
häufig ist dieses Konzert Gegenstand musikwissenschaftlicher Arbeiten
geworden, es galt als so vorbildlich, daß es sogar ins Lehrprogramm
aufgenommen wurde.9
9
Darauf weisen Cholopowa und Tschigrajowa ausdrücklich hin und
nennen eine ganze Reihe von Publikationen (S. 47); außerdem zitieren
sie Kommentare aus der Diskussion über das Werk beim Komponisten-Verband
(S. 51). |
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