- 249 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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dessen Gedicht: Moskau – wer bist du?: »Moskau – altersgrauer Schädel, mit einem Rasiermesser aus Stein möchte ich diese Mauern spalten, in denen, Herbstgebeten gleich, die Kinder hüpfen vor dem Tod... Moskau – wer bist du? Ich weiß, ihr seid strenggläubige Wölfe, aber warum, warum hört ihr nicht knistern die Nadel des Schicksals, dieser wundersamen Näherin? [...]« An Adys Gedicht Hier sind die Tränen salziger und Miloszs Gedicht Meine treue Sprache anknüpfend, erläuterte Nono zur Idee seines Werkes:

»[...] Die Erlöser haben nicht erlöst. Das Gelobte Land hat sich wieder verhüllt. Die Distel hält es bedeckt. Aber so wie die Sprache im Innern arbeitet – mit der Geduld eines Maulwurfs, der Gänge für die Zukunft gräbt (Mandelstam) – so spaltet Chlebnikow, der ungeheure Chlebnikow, mit seinem ›Rasiermesser aus Stein‹ die Mauern, welche die Sprache gefangenhalten, klagt die ›strenggläubigen Wölfe‹ an, die sie in Ketten legen. [...] Der Tod kommt gegenwärtig von dort, aber es wird kein Tod mehr sein, wenn diese Stimmen sprechen: wenn Milosz das polnische Vaterland wieder als Ort seiner Sprache ansehen kann, wenn man in Ungarn die Sprache von Ady spricht und in Rußland die von Pasternak. ›Ich habe die weiße Fahne nicht gehißt‹; auch ›wenn sie am Sterben sind, singen die Menschen.‹«

Zur Uraufführung von Nonos Diario polacco 2: Quando stanno morendo, die nun nicht in Warschau stattfinden konnte, sondern in Donaueschingen stattfand, schrieb ich am 22.10.1982 im Rheinischen Merkur: »[...] Man müßte sich vielleicht (was in Deutschland schwerfällt) in die Lage eines italienischen Kommunisten versetzen, der die Welt des ›realen Sozialismus‹ naiv als Utopie erlebte und in diese Utopie moralische Energien investierte, Entgegenstehendes als Verzerrungen bagatellisierte – bis es schließlich nichts mehr zu bagatellisieren gab. 1968 die Tschechoslowakei. Luigi Nono reiste damals noch nach Prag und mühte sich um Verständnis, von den tschechischen Kollegen als ›Mister Dada‹ belächelt (Da-da ist auf Russisch ›Ja-ja‹, in Umkehrung seines Namens ›No-no‹ zu verstehen). Dann kamen Afghanistan und Polen. In einem Vortrag in Ungarn hat Nono seine Ansichten als italienischer Kommunist offen ausgesprochen – er wurde in der Simultanübersetzung totgeschwiegen, in der Musikpresse dann wütend angegriffen. 1958 hatte Nono ein Diario polacco komponiert; jetzt komponierte er ein Diario polacco Nr. 2 unter dem Titel Quando stanno morendo. Was Ingrid Ade, Monika Bair-Invenz, Bernadette Manca di Nissa und Halina Nieckarz in diesem Diario polacco unter Leitung des Komponisten zu singen haben, erinnert mehr als an alle Experimente der Neuen Musik an die Sprache der gregorianischen Liturgie. Es ist die Sprache der tiefsten Resignation und Erschütterung, in die sich hier ein Komponist des lateinischen Kulturkreises zurückzieht. Das Etikett Minimal music liegt nahe, paßt aber nicht: Es handelt


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