- 247 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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Seit 1971 blieb der Warschauer Herbst keine rein polnische Privatangelegenheit mehr. DDR-Deutsche, Tschechen und Slowaken durften zwar nun nicht mehr in die Welt hinaus; diese Grenze war hermetisch abgesperrt. Aber als Kompensation wurde den eingesperrten Völkern eine umgrenzte Reisefreiheit gewährt: DDR, CSSR und Polen vereinbarten wechselseitige Visafreiheit – nur mit einem Personalausweis und einer Zollerklärung konnten ihre Bewohner nun die Grenzen passieren. Daß sie keine Außengrenzen passieren durfte, daß kein Leibeigener etwa über Polen nach dem Westen entkommen konnte, hatten die Regierungen natürlich bindend vereinbart, und das wurde streng kontrolliert – erst Ungarn machte 1989 diesem Spiel ein Ende und leitete damit das Ende der DDR ein.

Seit 1971 konnte man also als DDR- oder CSSR-Bürger wohl vieles nicht, aber immerhin eines: mit dem Personalausweis nach Polen fahren, und zum Warschauer Herbst reisten nun nicht nur mehr die delegierten Funktionäre der Komponistenverbände, sondern wer immer Interesse hatte am aktuellen Stand der Neuen Musik: Komponisten mit oder ohne Betätigungsrecht, Studenten, Interpreten, und abermals brachen hier alle Dämme – der Warschauer Herbst bekam sein ganz neues internationales Publikum. Dessen eigenes Geld war zwar nichts wert und reichte niemals für die teuren Warschauer Hotels, aber da bewährte sich wieder polnische nachbarliche Solidarität, und man brachte sehr viele dieser Musikidealisten in Studentenheimen unter, die im September noch leer standen.

Fuhr man mit dem Zug nach Warschau, stiegen jene am Berliner Ostbahnhof zu, und es ergaben sich Gespräche über Schicksale. Da hatten z.B. einen jungen Kompositionsstudenten aus dem Oldenburgischen die progressiven Musikideen Hanns Eislers bewogen, ein Studium an der Ost-Berliner Musikhochschule Hanns Eisler aufzunehmen, dann war die Grenze zugeschnappt und zurück führte kein Weg mehr. Aber zu aktuellen Informationen über den ›Materialstand‹ der zeitgenössischen Musik eben auch nicht, außer dem einen in der dritten Septemberwoche in die Weichselmetropole, die so zum gelobten Mekka wurde für alle, die es im sozialistischen Bannkreis nach den simpelsten Fachinformationen dürstete. Oder den einst berühmten und gefeierten Komponisten aus Brünn, der gerade noch Stunden geben, aber sonst unter seinem Namen weder aufgeführt noch gedruckt werden durfte – für ihn kam es darauf an, hier in Warschau die Kollegen zu treffen und Kontakte nicht zu verlieren. Versuchte er doch jetzt unter dem Namen seiner Frau zu komponieren und aufgeführt zu werden – was leider auch mißlang, weil dieser Name von der Partei als jüdisch betrachtet wurde!

Ungeachtet bewahrter und verteidigter Unabhängigkeit blieb eben auch der Warschauer Herbst selber von Interventionen nicht verschont. Das war im Jahre 1972 – im Vorprogramm angekündigt war ein Gastspiel des Leningrader


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