- 245 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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Schwierigkeiten hatte, für seinen bisherigen Arbeitsplatz einen Ersatz zu stellen: er hatte als Heizer arbeiten müssen.

In der Musik verfuhr man so: der alte, neutrale Komponistenverband, der für seine Mitglieder eine tüchtige Publikationsarbeit geleistet hatte, wurde 1972 aufgelöst, und in einen neugegründeten, linientreuen, durften nicht alle früheren Mitglieder mehr aufgenommen werden. Nicht aufgenommen werden durften also Komponisten wie Marek Kopelent oder Miloslav Kabelac, deren Namen man mit dem »Prager Frühling« verband, also mußten sie aus der Öffentlichkeit verschwinden. (Kopelent brauchte sogar nicht einmal als Heizer oder Busfahrer zu arbeiten, sondern durfte in einer Ballettschule Klavierbegleiter sein.) Den Warschauer Herbst interessierte dies wenig. Von Kopelent nach 1972 auf dem Programm polnischer Interpreten standen 1973 sein IV. Streichquartett, 1974 Das Schweißtuch der Veronika, 1979 Vacillat pes meus, 1981 die Legende De Passione St. Adalberti martyri, 1986 Pozdravení sowie 1986 und 87 weitere Aufführungen deutscher und französischer Interpreten. Von Kabelac spielte 1978 das Schlagzeugensemble Malmö die 8 invenzioni per strumenti a percussione und 1980 die Warschauer Schlagzeuggruppe dasselbe Werk. Dies waren dann nicht einmal mehr »Katakombenkonzerte«, sondern normale, im Programm ausgedruckte Aufführungen.

Auf diese Weise bildete der Warschauer Herbst im Vorgriff auf glücklichere Zeiten ein Stück normales Europa inmitten einer sozialistischen Welt, die von Normalität noch weit entfernt war. Ging das gut, konnte das gutgehen?

Solange sich Polen in der üblichen Isolierung eines sozialistischen Staates nach außen hin befand, d.h. die Einreise mit langfristig zu beantragenden, umständlich zu erlangenden Visa verknüpft war, konnte man den Warschauer Herbst wie andere kulturelle Ereignisse Polens seitens der Anrainerstaaten in gewissem Maße totschweigen und vergessen. Zum Warschauer Herbst schickten deren Komponistenverbände ausgewählte Beobachter mit dem Auftrag, Eindrücke zu sammeln, die positiv oder auch kritisch ausfallen mochten. Mit dem Herausgeber der DDR-Zeitschrift Musik und Gesellschaft wurde ich in dieser Eigenschaft beim Warschauer Herbst 1967 bekannt. Zu seiner Betrübnis hatte er die strikte Auflage, auch in seiner eigenen Zeitschrift kein Wort über den Warschauer Herbst zu veröffentlichen, nicht einmal ein kritisches. Soweit sich in der Sowetskaja Muzyka Berichte fanden, wurde das Festival im allgemeinen unter dem Stichwort »problematisch« abgetan.

Die Situation hatte etwas Schizophrenes und Gespenstisches! Drüben an der Weichsel konnte Neue Musik frei atmen, und die créme de la créme der internationalen Musikwelt war dabei zugegen – das Programmheft 1967 memoriert in einer Bilddokumentation die Reihe prominenter Gäste: das Parrenin-Quartett und Roman Haubenstock-Ramati 1960, Benjamin Britten


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