- 244 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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seines Crescendo und Diminuendo an alle Interessenten. Bei einem anderen »Katakombenkonzert« im Jahre 1977 erklang Leonid Grabowskis (Hrabovskijs) Homöomorphie in allgemein zugänglicher »nichtöffentlicher« Präsentation in der Bibliothek des Komponistenverbandes.

Auch sonst hat es der Polnische Komponistenverband an hilfreicher Solidarität mit den sozialistischen Kollegen nie fehlen lassen. Während in der DDR elektronische Musik noch lange Zeit als ›vom Teufel‹ galt, existierte beim Polnischen Rundfunk in Warschau seit langer Zeit ein Experimentalstudio, in welchem polnische Komponisten ihre elektronischen Arbeiten produzierten, z.B. Elzbieta Sikora La tête d’Orphée – doch eben nicht nur polnische. Aus der DDR konnte hier Paul-Heinz-Dittrich den elektronischen Part seines Concert avec plusieurs instruments II erarbeiten, das dann seine Aufführung beim Warschauer Herbst 1974 erfuhr. In der DDR faktisches Berufsverbot hatte der Komponist, Instrumentenbastler und Improvisator Hans-Karsten Raecke, nachdem er aus dem Radetzkymarsch und sowjetischen Massenliedern eine satirische Collage gebastelt hatte, die als schändlicher Ulk verurteilt wurde.

Alle Konzerteinladungen, die dann an ihn ergingen, wurden vom Staatssicherheitsdienst kassiert, und wenn man z.B. mit ihm gemeinsam zur Künstleragentur der DDR ging, um eine solche Einladung persönlich zu erklären, bekamen die dortigen Mitarbeiter Ärger deswegen, er selbst aber dennoch keine Ausreiseerlaubnis in den Westen. Der Warschauer Herbst aber lud ihn 1977 ein und gab ihm und seinem Jazzkollegen Günther Sommer die Möglichkeit, eine ganze Konzerthälfte zu bestreiten (Inzwischen war der Reiseverkehr von der DDR nach Polen visafrei).

In besonderer Notlage waren die tschechischen Kollegen im Zuge der »Normalisierung« nach der Invasion der Warschauer-Pakt-Truppen 1968. Nicht augenblicklich, denn der Anschein von Gewaltsamkeit sollte ja zunächst vermieden werden, sondern langsam und über Jahre hinweg wurden jene Maßnahmen ergriffen, die das aufrührerische Kulturleben, das zum »Prager Frühling« geführt hatte, nach sowjetischem Muster einebnen und gleichschalten sollten. Um ein Land zu kolonisieren, muß man vor allem seine Intelligenz ausschalten, und wer immer im Zusammenhang des »Prager Frühlings« einen Namen hatte, stand jetzt auf der Abschußliste. In jenen Jahren der »Normalisierung« mußten international bekannte Chirurgen als Fensterputzer, weltbekannte Slawisten als Schrankenwärter arbeiten, während ihre Bücher vielleicht noch gedruckt wurden, ihr Name aber darin nicht mehr vorkommen durfte. Mit einem Busfahrer in Brünn führte ich 1985 ein ausgedehntes nächtliches Gespräch – er war eigentlich ein hochqualifizierter, vom Dienst suspendierter Mathematiker, und man wird sich erinnern, daß nach der Wende 1991 der designierte Außenminister Jirí Dienstbier seine


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