- 240 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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Dingen. Und die Dodekaphonie! Ich bekam zunächst von meinen Kollegen in Österreich ein Buch von Hanns Jellinek, die Anleitung zur Zwölftontechnik – das war eine Bibel! Da mußte ich meinem Lehrer Tadeusz Szeligowski das überlassen, er hat das schnell ins Polnische übersetzt (er konnte gut Deutsch), und dann hat man praktisch gegen das Programm, das offiziell in der Schule galt, auch die Dodekaphonie gelehrt. [...] Die Dodekaphonie wurde eine Offenbarung, Strawinskys Sacre du printemps, Schostakowitsch mit der Oper Die Nase, Prokofjew [...] Wir kannten ja von Prokofjew praktisch nur das, was die Russen uns brachten: Peter und der Wolf , Romeo und Julia. Auf einmal entdeckte man, was dieser Komponist vor dem Kriege noch alles geschrieben hatte, als junger Mann. Das alles war für uns praktisch eine total neue Welt. Die Entdeckung der Erde! Und das verdankten wir damals junge Komponisten dem Warschauer Herbst. Es war eine Offenbarung. Die Sorge, daß man die Eintrittskarten los wurde, die existierte überhaupt nicht – Eintrittskarten zu bekommen, war das Problem. Die Säle waren überfüllt, immer! [...]«

Nie anders als gut besucht habe ich dieses Festival auch in den 60-er, 70-er und 80-er Jahren trotz seines Mammut-Umfangs erlebt. In seinen guten, wichtigen Zeiten begann es an einem Freitagabend in der zweiten Septemberhälfte mit einem Konzert in der Nationalphilharmonie, deren Podium mit den Flaggen aller teilnehmenden Nationen geschmückt war, eröffnet mit der polnischen Nationalhymne Noch ist Polen nicht verloren , und erstreckte sich über die kommenden zehn Tage bis zum nächstfolgenden Sonntag. Zu dem abendlichen Orchesterkonzert in der Nationalphilharmonie, gelegentlich auch in einer Kirche oder im Theater, trat regelmäßig täglich ein Nachmittagskonzert im Konzertsaal der Musikhochschule, an den Sonntagen dort auch noch eine Matinee, und immer öfter wurden dann noch die Nachtstunden zur Präsentation der allerneuesten Schöpfungen der Elektronik und musikalischer happenings genutzt. Es läßt sich leicht errechnen, daß auf diese Weise an die dreißig Konzertveranstaltungen zusammenkommen konnten, daß 150 Werkaufführungen bei einem Herbst keine Seltenheit waren; und die Zahl anfallender Ur- und polnischer Erstaufführungen bewegte sich um die siebzig.

In solch umfassender Vielfalt gab es schließlich auch kein westliches Festival Neuer Musik, das mit dem Warschauer Herbst konkurrieren konnte, und nicht nur der östliche, auch der westliche Musikfreund fand hier die einmalige Gelegenheit, seine Allgemeinbildung in Sachen Neuer Musik zu erweitern und vieles kennenzulernen, das auf westlichen Avantgardefestivals eher im Hintergrund stand – ich denke an konkrete Erfahrungen mit Neuheiten von der amerikanischen und skandinavischen Szene. So wurde der Warschauer Herbst nicht nur für Komponisten der östlichen Hemisphäre, sondern gerade


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