- 239 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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auf der europäischen Szene. Der Warschauer Herbst war auch keineswegs das einzige Musikfestival in Polen – in den 70-er Jahren zählte man deren um die vierzig verschiedenartig spezialisierte regionale und lokale Festspiele, z.B. ein Festival Musik und Poesie in Bialystok, ein Chopin-Festival in Duszniki, ein Kammermusikfest in Lancut, viele Orgel- und Chorfestivals mit geistlichem Programm wohlgemerkt im atheistischen Staate. Doch unversehens gewann der Warschauer Herbst sein einzigartiges Profil als ost-westliche Begegnungsstätte, als internationaler Austauschplatz musikalischer Avantgarde-Ideen ohne Beispiel, jedoch mit seinem Beispiel Nachfolgeinstitutionen auf den Plan rufend wie seit 1961 die Zagreber Biennale und seit 1963 das festival international d’art contemporain im französischen Royan.

Die Anfänge hatten sich bescheidener ausgenommen; zunächst war es um eine Art zentraler Leistungsschau des polnischen Kompositionshandwerks gegangen, doch spukte eine weitere Öffnung bereits in vielen Hinterköpfen. Der Komponist Augustyn Bloch, der der Programmkommission des Warschauer Herbstes viele Jahre lang präsidierte, erinnerte sich in einem Gespräch im September 1996:

»1955 entstand ein Vorbild dieses Festivals, und zwar ein Festival der polnischen Musik. Da gab es engagierte Leute wie z.B. Tadeusz Zakiej, die hatten dieses Festival zustandegebracht. Praktisch von diesem Skelett aus, das dort gebaut wurde, haben Kollegen schon ein konkretes Bild gehabt, allerdings mit einem geänderten Programm: also [...] nicht nur polnische Musik, sie haben sich umgeschaut nach Westen und gesucht. [...] Dann kam auch ins Spiel, daß ja vorher die Darmstädter Tage stattgefunden hatten, und manche Kollegen wie Tadeusz Baird, Kazimierz Serocki und Wlodzimierz Kotonski waren nach Darmstadt gefahren und hatten uns Neuigkeiten von dort mitgebracht. Es ging aber nicht so rasch, dies alles einzuordnen. Man mußte ja zunächst alles bringen, was bei uns überhaupt noch nicht gespielt worden war. Denn bei uns war es ja so: Fünf Jahre Pause, das war der Krieg, von Hitler. Dann die Jahre von 1945 bis 1955: zehn Jahre Stalin-Periode, die schlimmste Zeit für die Kultur. Praktisch hatten wir fünfzehn Jahre, von 1939 bis 1955, überhaupt keinen Kontakt mit dem Westen, was die Kultur betraf (und nicht nur die Kultur). Man mußte also – das klingt seltsam: von vorn anfangen: alles auf dem Festival erklang zum ersten Mal, was man da auch brachte. Ein Bartók zum ersten Mal, ein Strawinsky zum ersten Mal, und alle waren erstaunt. Was für eine Musik es dort im Westen gibt! Dann kamen Partituren – die westlichen Musikverlage waren wirklich sehr freundlich zu uns, sie haben uns ermöglicht, die Partituren zu bekommen. Auf diese Weise haben wir von Bartók die Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta und sein Violinkonzert kennengelernt. Wir haben die Augen aufgesperrt, denn in der Schule wurde uns nichts gelehrt von solchen


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