- 238 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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Vorstellungen durcheinander, die man bislang vom musikalischen Leben im Sozialismus hegte: War Polen jetzt zum westlichen Land geworden?

Sicherlich war es das nicht: Es war etwas eigenständig Polnisches, was sich da im Werk der drei kommenden ›Klassiker‹ der Neuen polnischen Schule anbahnte, zu denen sich dann als vierter Stern bald Krzysztof Penderecki als junger ›Aufsteiger‹ gesellte, nachdem er in einem anonymen Kompositionswettbewerb gleich drei Preise errungen hatte. Und wir müssen uns die Freiheiten der 50-er Jahre noch immer und auf lange Zeit als begrenzt vorstellen, wissen wir ja inzwischen, daß auch zu jener Zeit Komponisten wie Andrzej Panufnik oder Dichter wie der spätere Nobelpreisträger Czeslaw Milosz weiterhin im Exil lebten und in der Heimat verschwiegen werden mußten. Die Tage der unwahrscheinlichen Zeitschrift Polen an sozialistischen Kiosken waren auch gezählt: Schon bald mußte die provozierend bunte, großflächige avantgardistische Kunstzeitschrift in den sozialistischen Anrainerstaaten durch eine kleinerformatige Ausgabe ersetzt werden, die auch Polen hieß, aber in der nun gebührend die Rede von Aufbau- und Ernteerfolgen und vom fortdauernden Kampf gegen den Imperialismus war (zu dem dann um 1967 besonders Israel gerechnet wurde), während das große bunte Kunstjournal bloß noch in den deutschen Westen geliefert wurde und also nicht mehr am Bahnhof Friedrichstraße, sondern nur noch am Bahnhof Zoo zu kaufen war.

Trotz all solcher Begrenzungen ging von Polen, von den polnischen Aufbrüchen der 50-er Jahre fortan eine ansteckende Freiheitslust aus, die sogar in die Sowjetunion hinüberstrahlte: die Vision von einem »Sozialismus mit menschlichem Angesicht«, wie er dann in der Tschechoslowakei im »Prager Frühling« zum Programm wurde und an den viele glaubten, bis sowjetische Panzerketten unmißverständlich klarstellten, daß es zwischen dem einen und dem anderen keine Verbindung geben könne und dürfe.

1 Die Entdeckung der Erde

Aus dieser Aufbruchsepoche und diesen Visionen leitete das Festival der Neuen Musik mit dem Namen Warschauer Herbst seine Tradition. Neue Musik war sicher nicht das einzige, vielleicht nicht einmal das wichtigste Gebiet, auf dem die neue polnische Unbefangenheit schöpferische Konsequenzen hatte, so gelangten in jenen Jahren polnische Filmkunst und Plakatkunst zu europäischem Ruhm, und Polens experimentierende Theater wie Henryk Tomaszewskis Breslauer Pantomimentheater, KTO und STU in Krakau, das »Neue Theater« oder »Òsmego dnia« in Posen, benannt nach Marek Hlaskos gleichnamiger Novelle Der achte Wochentag, wurden zu Offenbarungen


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