- 237 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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und wahrscheinlich jahrhundertealter Lehrstoff, vermutlich von den Jesuiten im 17. Jahrhundert eingeführt – dies also hatte sich in Polen erhalten und wurde bewußt gepflegt!

Nicht weit vom Bahnhof Friedrichstraße stand als bescheidene Baracke das »Haus der Polnischen Kultur«, wo man Polnisch lernen konnte, wo bisweilen Vorträge oder Konzerte stattfanden und in einem zunächst schlecht besuchten Verkaufsraum zumeist Kunstgewerbliches zu haben war: Geflechte aus Stroh, Hähne auf Batik oder Gefäße aus schwarzer Keramik, die nicht dicht hielten – Schallplatten: ja, da gab es, allmählich sich vervollständigend, die polnische Chopin-Gesamteinspielung, auf der Interpretationen von Boleslaw Wojtowicz, Regina Smendzianka, Jan Ekier oder Halina Czerny-Stefanska unsere westlichen Salon-Vorstellungen zu Chopin grundsätzlich in Frage stellten. Und da lag nach diesem Schicksalsjahr 1956 plötzlich Unerhörtes auf dem Ladentisch: Jazz, regelrechter klassenfeindlicher Jazz in Aufnahmen vom Jazzfestival Zoppot, wie er in der DDR allenfalls dann nach dem Mauerbau 1961 in Ventilfunktion geduldet war. Westliche Musiker waren beteiligt wie Willis Conover aus Amerika oder die Spree City Stompers aus West-Berlin; auf polnischer Seite ließen Namen wie Jerzy Kurylewicz oder Wanda Warska aufhorchen. Es war gar nicht ratsam, diese Aufnahmen irgendwo weiter draußen in der DDR vor Mithörern abzuspielen – der Abschnittsbevollmächtigte der Volkspolizei, der die polnischen Ansagen eh nicht verstand, verstand vielleicht auch sonst keinen Spaß und konnte Anstoß nehmen an diesem vermeintlichen Westimport.

Und so gab es plötzlich auch auf dem Gebiet der zeitgenössischen, der »modernen Musik« Aufregendes in der Baracke. Man muß sich dies vor Augen führen: daß in den sozialistischen Ländern zu jener Zeit Schostakowitsch allenfalls mit seinen neoklassischen 24 Präludien und Fugen geduldet war; schon seine Zehnte Sinfonie hatte wieder erbitterte Anfeindungen und jahrelange Diskussionen ausgelöst, ob man so komponieren dürfe; noch immer verboten waren seine 2., 3., und 4. Sinfonie, seine Opern Die Nase und Lady Macbeth, seine 8. wie auch die 6. Sinfonie von Prokofjew wurden nicht gespielt. Wo in musikalischen Analysen zu jener Zeit irgendwo zwölf Töne entdeckt wurden, durften sie so nicht bezeichnet, durfte nur allgemein von Chromatik gesprochen werden, und nun gab es da bei Polskie Nagrania unter Nr. XL 0072 eine denkwürdige Langspielplatte mit drei Werken, die nach damaligen Begriffen reiner Formalismus waren, zwölftönig waren sie natürlich auch und hatten, zu allem Überfluß, auch noch in Paris einen UNESCO-Preis erhalten. Das waren die Trauermusik in memoriam Bela Bartók von Witold Lutoslawski, die Sinfonietta für zwei Streichorchester von Kazimierz Serocki und die Vier Essays von Tadeusz Baird. Diese Stücke brachten alle


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