- 236 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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trug, denn dann wäre sie am Kiosk im Bahnhof Friedrichstraße gar nicht zu haben gewesen, sondern eines östlichen. Man kaufte sie und rieb sich ungläubig die Augen: das war ja ein Traum! Das konnte und durfte doch nicht wahr sein inmitten der geordneten sozialistischen Welt, in der bei uns Schriftsteller und Philosophen für ihre veröffentlichten und unveröffentlichten Gedanken mit einem Bein im Zuchthaus standen wie Erich Loest, Walter Janka und Wolfgang Harich oder gerade noch emigrieren konnten wie Uwe Johnson, Alfred Kantorowicz und Ernst Bloch! Für das, was es von Marek Hlasko oder Stanislaw Jerzy Lec, Slawomir Mrozek oder Leszek Kolakowski in jener traumhaften Zeitschrift Polen zu lesen gab, wären ihnen in der DDR, in der CSSR oder in der Sowjetunion mehrere Jahre sicher gewesen!

Nun gab es in der sozialistischen Welt Zeitschriften, die waren für die Propaganda der diplomatischen Vertretungen nach außen bestimmt und durften im Inneren nicht vertrieben werden; ihre Mitarbeiter durften sie nicht einmal mit nach Hause nehmen (ich weiß, wovon ich rede, denn meine Schwester hat an einer solchen gearbeitet). Aber da erschien im Ost-Berliner Aufbau-Verlag 1958, aus dem Polnischen übersetzt, der Abriss der Logik von Kazimierz Ajdukiewicz und sollte, laut Verlagsankündigung, »dem fühlbaren Bedürfnis nach einer kurzgefaßten elementaren Darstellung der formalen Logik entsprechen.« Dazu muß man wissen, daß »formale Logik«, da bekanntlich etwas Bürgerliches, in der DDR also etwas Verpöntes war. Da galt der Spruch des Nationalpreisträgers Kurt Bartels, abgekürzt KuBa: »Die Logik hinkt, die Dialektik grinst, die Zeit trägt einen roten Stern im Haar.« Aber da niemand mehr so genau wußte, worin eigentlich die »formale Logik« bestand, denn den nationalsozialistischen Vorgängern war sie ja naturgemäß fremd gewesen, versuchte man sich aus sozialistischer, also nichtbürgerlicher Quelle Aufschluß zu verschaffen über ihren wahren Charakter, und war auf das Buch von Ajdukiewicz gestoßen, und es ist ein gutes, aufschlußreiches Buch. Sein Leser erfuhr am Schluß zu seinem Erstaunen, daß es in Polen als Lehrbuch in den Oberklassen der Gymnasien benutzt werde. Wie denn das? – rieb sich der Leser in der DDR die Augen? Die beschäftigen sich da nicht nur mit dem dialektischen und historischen Materialismus, wie es sich doch gehörte?

Vieles von diesen zwei- bis dreitausend Jahre alten Syllogismen war mir aus dem Unterricht unserer aus Polen stammenden Lateinlehrerin geläufig, das Dilemma vom fliegenden Pfeil, der sich an einem Ort und zugleich an einem anderen befinde, von Achilles und der Schildkröte, die er nach formaler Logik niemals einholen könne (nach mathematischer Logik schon, aber die kam erst zweitausend Jahre später), das also waren, wie aus Ajdukiewiczs Buch zu erfahren, nicht nur ›Erzählchens‹ gewesen zur Auflockerung trockenen Lateinunterrichts, sondern offenbar jahrtausendealtes Bildungsgut


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