Detlef Gojowy
Der Warschauer Herbst im Rückblick
Das Festival Warschauer Herbst der Neuen Musik
bildet nicht nur ein Kapitel Musikgeschichte, es war zugleich ein Kapitel
europäischer politischer Geschichte. Es begann im Schicksalsjahr 1956,
als in Ungarn der Versuch eines demokratischen Aufbruchs unter sowjetischen
Panzerketten blutig scheiterte, und in Polen drohte einem ähnlichen
Aufbruch dasselbe Schicksal. Die Welt hielt den Atem an, doch eine Art ›Wunder
an der Weichsel‹, eine geschickte Diplomatie des »Sowohl – als auch«
brachte es zuwege, den Machtanspruch des Großen Bruders für den
Augenblick zu besänftigen. »Sowohl«, das war das weitere
Verbleiben Polens im Sozialistischen Lager, die weitere Herrschaft der Kommunistischen
Partei, aber immer interessanter wurde das »Als auch«, etwa daß
seine Landwirtschaft weiterhin unkollektiviert blieb, und das Ausmaß
an sich nun entwickelnder geistiger Freiheit, die, so relativ sie heute im
Rückblick erscheinen mag, auch in dieser Bedingtheit eine unwahrscheinliche
Sprengkraft erwies.
Es ist schwierig, einer Generation des Jahres 1999
etwas Normales bzw. was ihr als normal erscheint, als etwas Besonderes oder
gar Atemberaubendes plausibel zu machen: daß ein Schriftsteller einfach
von Erlebnissen schreibt, die es nicht geben dürfte, daß ein Maler
Farben nimmt, die er will und selber ausgewählt hat, ganz leuchtende
beispielsweise und sie abstrakt auf große Flächen verteilt, daß
er Plakate entwirft, ohne auf Figürlichkeit Rücksicht zu nehmen,
daß ein Satiriker spitze Aphorismen gegen den Zeitgeist formuliert,
zum Beispiel: »Wenn ihr die Denkmäler stürzt, laßt
die Sockel stehen. Die kann man immer noch mal brauchen.« Oder: »Wenn
ein Despot die Augen schließt, dann öffnen sie sich dem Volk.«
Daß ein Theater experimentiert (sich also mit ganz unnötigen, überflüssigen
Mätzchen beschäftigt, die das Volk nicht braucht) und eine Zeitschrift
darüber in alle Welt berichtet! Daß in Lodz eine ganze Filmhochschule
damit beschäftigt ist, die dekadente Dramaturgie eines Andrzej Wajda
zu entwickeln und zu lehren! Daß an das Werk des bürgerlichen,
also überwundenen Schriftstellers Henryk Sienkiewicz erinnert wird,
der im 19. Jahrhundert seine idealistischen historischen Romane schrieb.
Was ist Besonderes an solchen Selbstverständlichkeiten, mag eine Generation
von 1999 fragen.
Ich versuche dieses Besondere aus der Erlebnisperspektive
von Ost-Berlin im Herbst jenes Jahres 1956 zu schildern. Dies alles spielte
sich in einer großflächigen Zeitschrift ab, die den Namen nicht
eines westlichen Nachbarlandes
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