- 235 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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Detlef Gojowy

Der Warschauer Herbst im Rückblick

Das Festival Warschauer Herbst der Neuen Musik bildet nicht nur ein Kapitel Musikgeschichte, es war zugleich ein Kapitel europäischer politischer Geschichte. Es begann im Schicksalsjahr 1956, als in Ungarn der Versuch eines demokratischen Aufbruchs unter sowjetischen Panzerketten blutig scheiterte, und in Polen drohte einem ähnlichen Aufbruch dasselbe Schicksal. Die Welt hielt den Atem an, doch eine Art ›Wunder an der Weichsel‹, eine geschickte Diplomatie des »Sowohl – als auch« brachte es zuwege, den Machtanspruch des Großen Bruders für den Augenblick zu besänftigen. »Sowohl«, das war das weitere Verbleiben Polens im Sozialistischen Lager, die weitere Herrschaft der Kommunistischen Partei, aber immer interessanter wurde das »Als auch«, etwa daß seine Landwirtschaft weiterhin unkollektiviert blieb, und das Ausmaß an sich nun entwickelnder geistiger Freiheit, die, so relativ sie heute im Rückblick erscheinen mag, auch in dieser Bedingtheit eine unwahrscheinliche Sprengkraft erwies.

Es ist schwierig, einer Generation des Jahres 1999 etwas Normales bzw. was ihr als normal erscheint, als etwas Besonderes oder gar Atemberaubendes plausibel zu machen: daß ein Schriftsteller einfach von Erlebnissen schreibt, die es nicht geben dürfte, daß ein Maler Farben nimmt, die er will und selber ausgewählt hat, ganz leuchtende beispielsweise und sie abstrakt auf große Flächen verteilt, daß er Plakate entwirft, ohne auf Figürlichkeit Rücksicht zu nehmen, daß ein Satiriker spitze Aphorismen gegen den Zeitgeist formuliert, zum Beispiel: »Wenn ihr die Denkmäler stürzt, laßt die Sockel stehen. Die kann man immer noch mal brauchen.« Oder: »Wenn ein Despot die Augen schließt, dann öffnen sie sich dem Volk.« Daß ein Theater experimentiert (sich also mit ganz unnötigen, überflüssigen Mätzchen beschäftigt, die das Volk nicht braucht) und eine Zeitschrift darüber in alle Welt berichtet! Daß in Lodz eine ganze Filmhochschule damit beschäftigt ist, die dekadente Dramaturgie eines Andrzej Wajda zu entwickeln und zu lehren! Daß an das Werk des bürgerlichen, also überwundenen Schriftstellers Henryk Sienkiewicz erinnert wird, der im 19. Jahrhundert seine idealistischen historischen Romane schrieb. Was ist Besonderes an solchen Selbstverständlichkeiten, mag eine Generation von 1999 fragen.

Ich versuche dieses Besondere aus der Erlebnisperspektive von Ost-Berlin im Herbst jenes Jahres 1956 zu schildern. Dies alles spielte sich in einer großflächigen Zeitschrift ab, die den Namen nicht eines westlichen Nachbarlandes


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