- 229 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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jenseits kollegialer Solidarität, die Strawinski ihm während der Verhöre in den USA zukommen ließ, für die Eisler sich im Jahre 1957 mit der von ihm gegen alle Verbote durchgesetzten Strawinski-Matinee revanchierte. Sie liegen im prinzipiell Gestischen der Musik, in der Präzision musikalischer Gedanken, in der Transparenz des musikalischen Satzes, im Zeigen statt Ausdrücken überhaupt, auch in beider Absicht, in und für die Gegenwart zu komponieren. Daß nicht nur Eisler, sondern auch Strawinski zu politischen Ereignissen sich triftig, oft weitsichtig äußert – im letzten Jahrzehnt seines Lebens u.a. gegen den verheerenden Krieg in Vietnam –, möchte gegen altbewährte, vorgeblich marxistische Strawinski-Bilder, gelegentlich auch gegen Eislers Urteile mit Nachdruck festgehalten werden.

Musikalische Interpretation ist, um zu verallgemeinern, mehr und anderes denn bloße Umsetzung des Vorgegebenen. Daß der Interpret zu seinem Gegenstand ein bestimmtes Verhalten einnehmen, mit ihm sich auseinandersetzen müsse, lenkt freilich auf einen anderen, in der Philosophie, Theologie, Literatur- und Kunstwissenschaft geläufigen Interpretationsbegriff, den hermeneutischen: Interpretieren heißt auslegen, und dies setzt voraus, daß der Auslegende zu seinem Gegenstand sich verhält, daß er dieses Verhalten nachvollziehbar thematisiert. Es übergreift aber sein Verhalten den spezifischen Gegenstand; als Welt-Sicht, Weltverhalten weist es ihm einen Teil im Ganzen zu; daß Teil und Ganzes sich zueinander widersprüchlich verhalten, ist vorausgesetzt, was daraus im Einzelfall resultiert, wenig erkundet.

Auch für die musikalische Aufführung bzw. Aufführungspraxis ist es unerläßlich, beide Interpretationsbegriffe, den der Aufführung und Auslegung, zusammenzudenken; rechtens thematisiert H. Danuser diese Kohärenz in seinen Begriffsexplikationen (vgl. Danuser 1992, 1996). Von hier aus jedoch muß jeder Versuch, Aufführung auf die Umsetzung des Vorgegeben zu reduzieren oder sie dahingehend zu beurteilen, als kurzschlüssig, wenn nicht gar untriftig zurückgewiesen werden.

2. Dies vorausgesetzt drängt sich die Frage nach Kriterien, Maximen adäquater bzw. inadäquater Interpretation auf. Steht nicht – oder nicht primär – die Genauigkeit, Vorgegebenes zu übersetzen, dafür ein, so doch die Qualität eines Verhaltens, in dem u.a. Genauigkeit des Sehens, Hörens, Lesens, Wahrnehmens, Übersetzens eine Rolle spielt: Spätestens hier muß von jener Intelligenz und Dummheit die Rede sein, die Eisler nicht erst seit der Mitte der fünfziger Jahre zu thematisieren sucht (vgl. u.a. Eisler 1982, 388 ff.). Oder davon, ob Musiker sich zu ihrer Wirklichkeit unreflektiert, dumpf verhalten, Trieben blind ausgeliefert sind, unsensibel, oder gar brutal dreinschlagen, ob sie, nach Brecht, glotzen statt sehen, lauschen statt hören, wie Kranke sich in fensterlosen Häusern bewegen, getäuscht vom Schein, den sie fürs Eigentliche nehmen, unfähig, jenen Schleier zu lüften, den die kapitalistische


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