- 226 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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Ton den Musiker dazu veranlaßt, das Konstruktive, also auch Konstrukt, die Substanz des Komponierten aufzufinden, um sie in eine adäquate Substanz der Interpretation zu übersetzen. Aufs Gleiche läuft Eislers Forderung hinaus, deutlich zu sprechen, zu singen, zu musizieren, gut zu phrasieren, aufs Gleiche, was immer er über klare, präzise musikalische Gedanken zu sagen weiß: Nicht zufällig, schon gar nicht nebenher beruft er sich auf Schönbergs Unterricht, auf Musikaufführungen im Kreise der zweiten Wiener Schule; wie sehr sein (nicht nur musikalisches) Denken dadurch geprägt ist, hat K. Czipak in Einzelanalysen dargetan (vgl. Czipak 1998).

2 Merk-Würdigkeiten in Eislers eigenen Interpretationen

1. Eisler probiert mit Irmgard Arnold, singt die Kinderhymne sowie den Beginn und Schluß des Liedes Die haltbare Graugans . Daß er beim Singen der Kinderhymne Anmut sparet nicht noch Mühe den musikalischen Bogen inmitten des Wortes »blühe« zerbricht (Eisler singt »blü–he«!), ist seiner Kurzatmigkeit geschuldet – er muß vor der zweiten Wortsilbe Atem schöpfen. Für die melodische Wendung, namentlich für den Terzabsprung jedoch bringt dies unverhofften Gewinn: Beide Töne werden dergestalt akzentuiert.

Daß er, beim Vortrag der Haltbaren Graugans , die genauen Tonhöhen verfehlt, verdankt sich nicht mehr nur, nicht einmal primär der physischen Befindlichkeit und kann als bloße Ungenauigkeit nicht mehr verbucht werden: Es gilt, hier wie in anderen Selbstinterpretationen, Sprechweisen, Gesten, Haltungen überdeutlich zu machen – sie sind ihm momentan wichtiger als die Tonhöhen; daß sie gelernt und eingehalten werden, setzt er bei Irmgard Arnold schlicht voraus. Noch interessanter ist es, daß er die Phrase »Zersprengt hat‘s den Mühlkasten« gleich zweimal vorsingt: Laut, polternd das erstemal, um kenntlich zu machen, daß der Mühlkasten wirklich zersprengt wird, leise, resignativ das zweitemal – wird der Mühlkasten nun doch nicht zersprengt, oder ist das Zersprengen vergebliche Liebesmühe?

Zwei verschiedene Ausführungen des Gleichen, verschieden im Tonfall, in der Rede-Gestik, in den Haltungen: Wird die erste Interpretation durch die zweite zurückgenommen, oder stehen beide Versionen gleichberechtigt im Raume?

Singt Eisler das Deutsche Miserere, so wird im Choral-Epilog ein Gutteil der komponierten Haltung zurückgenommen – die Starre des Cantus firmus, das Durchdringende der Klage, der latente Schrei. Artikuliert, verallgemeinert ist statt dessen die Müdigkeit, Resignation jener Soldaten, für die es kein Weg zurück mehr gibt.


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