erstenmale vorsang, dachte ich...
hier mußt du alles hineinlegen, was dir an revolutionären Empfindungen
zu Gebote steht. Da sagte mir Eisler lächelnd (wienerisch): Meine Gnädigste,
um Gottes willen, denken Sie, es ist ein Wiegenlied, also ein ganz kleines
Kind, an das Sie sich wenden. Versuchen Sie doch einmal, die Gedanken des
Textes nicht parat zu haben. Das sind doch für eine einfache Frau ganz
große Erkenntnisse! Zeigen Sie die Schwierigkeit, diese Gedanken zu
denken.« Und zu Lin Jaldati, mit der Eisler das gleiche Lied einstudierte:
Sie singe das Lied zu tragisch. »Das Elend der zwanziger Jahre war
doch für eine Arbeitermutter eine ganz selbstverständliche Sache.
Also mußt du alles freundlicher, leichter, eleganter vortragen.« (Hennenberg,
Brecht-Liederbuch, 1985, 459) Mehrerlei ist angesprochen: Zuallererst die
soziale und psychische Situation einer Arbeitermutter – ganz selbstverständlich
sei das Elend, und es müsse selbstverständlich, alltäglich
genommen werden. Zugleich gälte es die Mühe kenntlich zu machen,
die ihr die großen Entscheidungen aufladen. So alltäglich ihr Schicksal,
so ungewöhnlich ihre Gedanken, so vertraut die Situation, so unvertraut
ihre Erkenntnisse. Das Vertraute und Unvertraute, Gewöhnliche und Ungewöhnliche
im gleichen Atemzuge kenntlich zu machen könnte, um Brechts Schlußzeile
des Gedichtes Lob des Kommunismus aufzunehmen,
das Einfache sein, das schwer zu machen sei. Gefordert ist dialektisches Verhalten!
Mitnichten bezieht Eisler sich in diesen Gesprächen mit Gisela May und
Lin Jaldati auf notationelle und Vortragsanweisungen der
Vier Wiegenlieder. Daß seine
Mitteilungen in gesangstechnische Parameter angemessenem musikalischen Vortrags
sich übersetzen lassen, wird schlicht vorausgesetzt. Was ihm jedoch
zu sagen unerläßlich ist, bezieht sich auf Menschen der endzwanziger
(und nicht nur der endzwanziger) Jahre; sie müssen dem Interpreten vor
Augen geführt, in sein Weltverstehen aufgenommen sein, will die Aufführung
nicht gänzlich mißglücken. Wer, so Eisler häufig, nur
von Musik etwas zu verstehen meint, versteht auch davon nichts.
4. »Ich kannte einmal einen Oberkellner« – so der Beginn einer Philippika über den Dirigenten. »Es ist kein Zufall, daß der Kellner-Dirigent bei der Ausübung seines Berufes dieselbe Kleidung trägt (nämlich den Frack), auch der Dirigent hat etwas zu servieren. Nun in der Frage des Servierens war der Oberkellner ein Fachmann, der in Takt, Geschmack und Raffinement dem Dirigenten weit überlegen war. Er sagte mir: Wenn ich mit einem solchen Aufwand von Grimassen, Gesichtsverzerrungen und bombastischen oder süßlichen Gebärden meine Speise servieren würde, könnte ich mich keine acht Tage halten... Es ist doch unmöglich, daß der Kapellmeister, bevor ein gesangliches Thema kommt, ein süßliches Gesicht schneidet. Er kann doch nicht die Musik vorverdauen; ich könnte doch auch nicht einem Gast kauend und rülpsend das Fleisch auf den |