- 222 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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des Vorgegebenen, in diesem Falle der eigenen, vor mehr als einem Jahrzehnt aufgeschriebenen Noten. Die Alternative: Ein leichter, freundlicher, heller, fast humoristischer Ton (Bunge, a.a.O.) – davon wird vielerorts die Rede sein, auch und gerade in den Ernsten Gesängen.

Solche Äußerungen – sie lassen sich beliebig vermehren – sind über lange Zeit als bloße Aufforderung verstanden worden, das Notierte bitte genauer umzusetzen – verständlich angesichts jener Schlamperei, die selbst oder gerade hochrangigen Musikern unterläuft. Unschwer lassen Traditionen solcher Postulate sich auffinden: Mahlers und Schönbergs Gefechte im Dickicht der Aufführungspraxis, nicht zuletzt ihre notationellen und Vortragsanweisungen, die den Interpreten zur »Execution« (Hegel) des Notierten anhalten wollen.

Solche Aufforderung einzulösen jedoch ist nicht nur unbequem, sondern bei genauerem Hinsehen irreal, für jegliche Interpreten tödlich, weil sie ihnen ihr Wesentliches verweigert, nämlich ihr eigenes Verhalten zum Vorgegebenen, und weil sie ihnen zumutet, ihr eigenes, überaus vielschichtiges Verhältnis zur Wirklichkeit, ihre eigene Auseinandersetzung mit ganz unterschiedlichen Gegebenheiten (also nicht nur mit Notentexten!) preiszugeben. Und dies zugunsten einer Einfühlung, die nicht nur das Eigene auszuschalten vorgibt, sondern sich der blanken Selbsttäuschung überführt.

Eisler meint denn auch Anderes: Nicht die Repetition des Vorhandenen – es läßt sich ohnehin nicht repetieren –, wohl aber dessen genaue (oder wenigstens genauere!) Kenntnisnahme; sie allerdings ist Prämisse triftiger, d.h. fundierter Auseinandersetzung. Genauigkeit im Lesen, Sehen, Hören, Wahrnehmen läßt sich mit sklavischer Verfallenheit nicht identifizieren; sie verhilft dem Interpreten nicht zur Ausschaltung seiner Individualität, sondern zu deren erweiterter Reproduktion.

Eislers Kritik der Faulheit, Trägheit, Dummheit musikalischer Interpreten ist, bei genauerem Bedenken, Kritik universeller Dummheit, Trägheit, die das Musizieren überschreitet (vgl. Eisler 1982, 388 ff., 393 ff., 399 ff.; Bunge 1975, 148ff., 158ff., 179ff.). Ihr, der menschlichen, gesellschaftlichen Dummheit verdankt sich, daß ein Andante con moto als Trauermarsch genommen, das Bewegliche, Prozessuale der Musik getilgt, die Freundlichkeit in ihr Gegenteil verwandelt, Produktivität unter den Tisch gekehrt wird. Gesellschaftlicher Dummheit, die in der individuellen, pointiert musikalischen sich artikuliert, soll (nicht nur, aber auch) durch Musik abgeholfen werden. Sind Interpreten aufgefordert, genau hinzusehen, so können sie Differenzierungen wahrnehmen, die ihnen wiederum differenzierteres Welt-Verstehen nahelegen – mehr nicht, weniger nicht!

3. Hanns Eisler erarbeitet mit Gisela May das vierte Wiegenlied Mein Sohn, was immer auch aus dir werde . Ihr Bericht: »Als ich das Lied zum


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