- 221 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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Und wogegen richten sich derlei Anweisungen? Opponieren sie der allzu flachen, einschichtigen Lektüre der Notentexte? Kritisieren sie jene Einfühlung, die sich der eindimensionalen Lektüre verdankt oder sie hervorbringt? Nehmen sie Interpreten aufs Korn, die unfähig sind zu genauerem Hinsehen und Hinhören, oder gar zu faul, zu träge? Soll ihnen auf die Sprünge geholfen werden? Daß dies vergebliche Liebesmühe sei, läßt Eislers, gegen Lebensende sich häufenden, Verzweiflungsrufen sich entnehmen.

2. Eisler singt An die Nachgeborenen, überprüft hernach seine Interpretation und weist sie, in einem Gespräch mit Hans Bunge am 18. Juli 1961 zurück: »Ich habe das sehr schlecht gesungen, weil ich die Noten nicht mehr lesen kann...und einfach durch die technischen Schwierigkeiten nicht mehr zurecht kam. Wenn ich ausdrucksvoll wurde – also mit großem Ausdruck sang –, heißt das: Ich konnte die Noten nicht mehr genau erfassen. In meiner Darstellung fehlt die Freundlichkeit. Das muß freundlich gesungen werden, nicht gebellt werden – wie ein gekränkter Dackel.« (Bunge 1976, 145 f.) Und, nachdem er ein zweitesmal gesungen hat: »Ich bin nicht genug entspannt. Es ist dramatisch und unsinnig. Und so kann man es überhaupt nicht singen. Man müßte es ganz leicht, entspannt und fröhlich singen... So hoffe ich – in zwanzig Jahren – daß es einmal ein vernünftiger Mensch singen wird, und zwar leicht, hell, fast humoristisch... Was ich gemacht habe, ist völlig falsch und wird dem genialen Gedicht von Brecht – das auch seine Tücken hat – nicht gerecht.« (Bunge 1975, 146).

Mehrerlei ist bedenkenswert: Eisler zufolge verdankt sich der »große Ausdruck« (genauer: ein der Substanz aufgestülpter Aus-Druck?) dem Nicht-Erfassen der Noten, d.h. der komponierten Substanz. Läßt Ausdruck sich als Ersatz für die unter den Tisch gekehrte, weil unzureichend erkannte Substanz begreifen? Eisler verwirft das Dramatische (d.h. aufgedrückte Dramatik?) als unsinnig – nebenher kommt er aufs Epische zu sprechen (Bunge 1975, 146f.).

Unter welchen Umständen jedoch läßt Dramatik sich des unangemessenen, gar Unsinnigen überführen, was ist mit dem epischen Vortrag, mit der von Brecht in den fünfziger Jahren geforderten »Kunst, Epen zu musizieren« (Brecht 1935, 1993, 163) gemeint? Eisler denunziert seinen Gesang als Gebell, und als Gebell wird denn auch der (aus unzureichender Substanzerfassung hergeleitete) Ausdruck diffamiert. Schlimmer noch, der Ton verrät Gekränktheit, und der Sänger gleicht einem gekränkten Dackel: Jenem verdankt sich das Gebell; dieses verweist auf Gekränktheit; Gekränktheit aber verrät unangemessenen Selbstbezug; all dies wiederum, der überhandnehmende Selbstverweis, der gekränkte Ton, das Gebell, der unangemessene, weil aufgestülpte Ausdruck, die des Unsinnigen sich überführende Dramatik resultiert, so Eislers Beobachtung, aus Unkenntnis, Ungenauigkeit im Wahrnehmen


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