- 220 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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con moto ein »tragisches Largo« machen (a.a.O.); sei es, daß sie unpräzise phrasieren und dynamische Anweisungen, vorab Kontrastsetzungen, schlicht übersehen; sei es, daß sie der Musik einen Ausdruck verleihen – aufstülpen! –, der weder beabsichtigt noch ihrer Substanz angemessen ist.

Tatsächlich schreibt Eisler viel »rauf«: Tempoangaben, teilweise durch Metronomzahlen präzisiert, Angaben zur Dynamik und Agogik – beträchtlich die Spannweite zwischen vierfachem pianissimo und vierfachem fortissimo, auffällig die Kontraste zwischen den Extremen, Crescendi und Diminuendi auf engstem Raume, mitunter auf einem einzigen Tone; vielerlei Akzentsetzungen und -stufen. Hinzu kommen verbale Vortragsanweisungen: Daß sie dem notationell Fixierten verdeutlichend zur Seite stehen, schließt Kontradiktionen ausdrücklich ein. Mehrfach prallen über einer und derselben Formulierung verschiedene, teils notationell, teils durch Anweisungen kenntlich gemachte Interpretationsmöglichkeiten aufeinander – Pianissimo im Angesicht von Gebilden, deren Substanz ein Forte oder Fortissimo nahelegt, die Anweisung »freundlich zu singen« bei gleichzeitigem Fortissimo-Ausbruch, zuletzt in den Ernsten Gesängen 1962. Dies ruft Frage auf Frage auf den Plan: Warum lädt Eisler dem Notierten so viele und so eigenartige, mitunter widersprüchliche Vortragsanweisungen auf? Ist der Notentext ungenau, lückenhaft, so daß Präzisierungen sich aufdrängen, oder gar ambivalent, so daß dem Interpreten Wege gewiesen werden müssen ins halbwegs Eindeutige? Oder gilt es einem zu eindeutigen – einschichtigen? – Notentext überhaupt jene Ambivalenz, Mehrdeutigkeit, vorab Mehrschichtigkeit zu verleihen, die der Substanz eigentlich angemessen wäre? »Ohne Sentimentalität« steht über mehreren Gesängen aus den Neuen Deutschen Volksliedern , um – allzu naheliegender? – Sentimentalität des Vortrags zu begegnen: Es fragt sich, ob jene dem Notierten substantiell immanent oder als Klischee aufgedrückt ist, ob die oppositionelle Vortragsanweisung dem tatsächlich Komponierten oder eingefahrenen, gar »automatisierten Assoziationen« (Notowicz 1971, 171f.) korrigierend zu Leibe rückt.

»Mit finsterem Schmalz« – so die Anweisung über der zweiten Hollywood-Elegie; gleichzeitig jedoch ist piano und pianissimo angewiesen, das sich Ausleben im »finsterem Schmalz« zumindest auf halbem Wege abgeblockt; die musikalischen Gebilde bewegen »Tristan«-Klänge aus zweiter, dritter Hand; als ob die Tätigkeit der »Engel«, d.h. der Filmstars und Prostituierten, denen man in der Stadt Los Angeles begegnet, sich der pervertierten Nachfolge der von Wagner komponierten Liebesnacht ausgeliefert habe. Darauf bezieht sich die verbale Anweisung, und dies könnte zur schlichten Verdopplung des Notierten führen. Gilt es ihr durch dynamische Anweisungen zu begegnen, darüber hinaus bloßzulegen, was darin an verborgener Sehnsucht nach wirklichem Angenommen-Sein, wirklicher Liebe sich verschämt artikuliert?


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