- 176 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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Zusammenhalt unmittelbar verbunden, so wird von national gesinnten Historikern des 19. Jahrhunderts ein spezifisch deutsches Familienleben als Nationalcharakteristikum behauptet, das die ›sittsamen Deutschen‹ z.B. von den ›frivolen Franzosen‹ abzusetzen geeignet ist. Heinrich von Sybel etwa attestiert den Germanen, die er kurzerhand als »unser Volk« vereinnahmt, »eine starke moralische Gesundheit«, die auch für die Deutschen seiner Zeit gelte: so werde »das deutsche Familienleben von keinem andern an Festigkeit und Innigkeit übertroffen.« (von Sybel, 42 u. 44) Der Historiker glaubt bei den Germanen eine »strenge Keuschheit der Sitte« zu beobachten, die »im scharfen Gegensatz zum römischen Wesen« gestanden habe (von Sybel 1863, 29). Der Gegensatz germanisch versus römisch wird im 19. Jahrhundert vor allem als Opposition deutsch versus französisch belebt. Deutlich wird dies bei Heinrich von Treitschke, der »das rechtschaffene Glück einer deutschen Ehe« den »lendenlahmen sentimentalen Phrasen« in französischen Büchern gegenüberstellt, »welche einen sittlichen Zweck verfolgen«, wo doch für Frankreich eigentlich die »Propaganda der Unsittlichkeit« charakteristisch sei (von Treitschke 1929, 378 u. 375).

Raff spielt mit dem ›häuslichen Herd‹ auf einen Bereich an, der wiederum mit stereotypen Eigenschaften besetzt ist, die als ›deutsch‹ verstanden werden konnten. Anders als bei den Begriffen ›deutsche Tiefe‹ sowie ›Jagd‹ bzw. ›deutscher Wald‹, wo er satztechnisch bzw. durch dominante Instrumente an voraussetzbare Konnotationen anzuknüpfen vermochte, ist die musikalische Analogie hier sehr allgemein – langsamer Satz als Ruhepunkt im symphonischen Zyklus/Familie (›häuslicher Herd‹) als ›ruhender Pol‹ im Leben der Deutschen – und ohne Programm-Kenntnis unverständlich.

Raffs Symphonie An das Vaterland ist fünfsätzig und verweist damit auf prominente Gattungsbeispiele. Vornehmlich ist an Beethovens VI. Symphonie und Berlioz’ Symphonie fantastique zu denken, Werke mit mehr oder weniger ausgesprochenen außermusikalischen Bezügen, in denen vor allem die beiden letzten Sätze programmatisch miteinander verbunden sind. Auch dies teilt Raffs Werk mit den zum Vergleich herangezogenen Symphonien. Ein gemeinsames musikalisches Merkmal, das Zitat des Liedes Was ist des Deutschen Vaterland, verbindet die Sätze ebenso wie das Programm, das folgendermaßen lautet:

»Wenn somit zunächst erfreuliche Anschauungen vorwalten durften, so war dies nicht mehr der Fall, als der Tondichter den Blick nach einer andern Seite deutschen Volkslebens wandte. So gewahrt man im vierten Satze wiederholte Anläufe zur Einigung unseres Vaterlandes durch eine feindliche Macht vereitelt. (Der Tondichter glaubte hier ein nicht von ihm erfundenes musikalisches Motiv, die Reichard’sche Melodie des Arndt’schen Liedes Was ist des Deutschen Vaterland?


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