- 175 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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An anderer Stelle stellt Canetti die besondere Beziehung der Deutschen zum Wald dar: »Das Massensymbol der Deutschen war das Heer. Aber das Heer war mehr als das Heer: es war der marschierende Wald. In keinem modernen Lande der Welt ist das Waldgefühl so lebendig geblieben wie in Deutschland.« (Canetti, 98 u. 202)

Auch ohne einen unmittelbar kämpferischen Bezug sind zahllose weitere Beispiele für den Topos ›deutscher Wald‹ zu finden: Man denke etwa an Webers Freischütz, in dem Wald und Jägermilieu tragende Elemente sind und der gerade als ›deutsche Oper‹ erfolgreich war. Hans Pfitzner äußerte bekanntlich, »die Hauptperson des Freischütz« sei »sozusagen der Wald, der deutsche Wald« (Pfitzner, 81), oder an Eichendorffs Gedicht Der Jäger Abschied, insbesondere in der Vertonung Felix Mendelssohns, die »den Wald als gottgesegnetes Symbol der deutschen Identität« präsentiert (Klenke 1998, 66). Raffs ›Jagd-Scherzo‹ reiht sich in eine Menge von Kunstwerken ein, die mit der Thematisierung von Wald und/oder Jagd Bereiche ansprechen, die vom Kollektiv der Deutschen und ebenso von Nicht-Deutschen als volkstypisch, d.h. als national und identitätsstiftend eingeschätzt werden. Ob dies vom Autor des Kunstwerks in jedem Falle intendiert oder vom Empfänger stets verstanden wurde, ist zweitrangig. Wichtig ist, daß mit dem Aufgreifen derartiger Kollektivsymbole die Möglichkeit bestimmter Decodierungen gegeben ist. Bei Raff jedenfalls darf man eine derartige Intention voraussetzen, wie das gesamte Programm und nicht zuletzt der Titel seiner Symphonie zeigen.

»Im dritten Satze möchte der Tonsetzer zur Einkehr an den häuslichen Herd laden, den er sich bei seinen Landsleuten gern durch die sittigenden Musen, durch treue Gatten- und Kindesliebe verklärt denkt.« Raff nutzt den gattungstypischen Kontrast zwischen Scherzo und langsamem Satz zur Gegenüberstellung von spezifisch ›männlicher‹ Tätigkeit (›Jagd‹ mit der Konnotation ›Kampf‹) und familiärem Umfeld, in das das ›Weibliche‹ entscheidend einwirkt. Die Frau konnte aber auch als »Gegenpol des männlichen Selbstverständnisses« aufgefaßt werden: »Die Achtung, die sie dem Mann als wehrhaftem Beschützer entgegenbrachte, wurde zum Spiegel seiner spezifisch kriegerischen Mannesehre.« (Klenke 1995, 414)

Kann somit ›die deutsche Frau‹ einerseits dem ›Kampf‹-Bereich zugeordnet werden, steht die Familie andererseits für »die Auffassung des Volkes als einer gottgegebenen Sittengemeinschaft.« Die Nation wurde zum »Bezugsrahmen einer Sozialethik«, was beispielhaft die Vorlesungen des Herder-Schülers Lebrecht DeWette verdeutlichen mit dem Appell, »das ehelich-familiäre Gemeinschaftsgefühl in konzentrischen Kreisen über den Ring der Freunde und Arbeitskollegen hinaus in die ›Vaterlandsliebe‹ zu überführen.« (Echternkamp 1994, 143) Wird hier also der familiäre mit dem nationalen


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