- 173 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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Jahrzehnte später – dies muß der Gerechtigkeit halber erwähnt werden – äußert sich Mann mit gänzlich anderer Wertung über »deutsche Tiefe.« (Kontrapunkt und Luther: Mann 1996, 265 ff.)

Joachim Raff greift mit der Beschwörung der »gedankenhaften Vertiefung« nicht nur verbal ein Stereotyp auf, sondern auch satztechnisch, indem er die als »spezifisch deutsch« auffaßbare Fuge dazu in Analogie setzt.

Klangbeispiel 1: An das Vaterland von Joachim Raff, 1. Satz, 11. T. nach B bis 4. T. nach C.

Indem am Schluß des Satzes die Vergrößerung des Themenkopfes enggeführt wird, weist Raff dem »punctum contra punctum« – semantisiert als »gedankenhafte Vertiefung« des »deutschen Charakters« – die Funktion der finalen Steigerung im Kopfsatz zu, der »bedeutende Momente des Deutschen« thematisiert. Dem entspricht der vom Partiturdruck abweichende Programm-Text, den Eduard Hanslick mitteilt und bei dem es sich vermutlich um die von Raff eigens für die Uraufführung erstellte Fassung handelt (vgl. aber Bevier, I, 202): Am Ende der programmatischen Bemerkungen, die dem Kopfsatz gewidmet sind, heißt es knapp: »überwiegender Hang zum Gedankenhaften.« (Hanslick, 282)

Der zweite Satz erhält folgendes Programm:

»Der zweite Satz sollte den Zuhörer unter kräftigem Hörnerschall mit deutschen Männern zum Waidwerk im deutschen Walde führen, – sollte ihn unter dem frischen Klange des Volksliedes mit Mädchen und Burschen bei ihrem heiteren Zug um gesegnete Fluren geleiten.«

Hier sind es der ›deutsche Wald‹ und das ›deutsche Lied‹, die als Kollektivsymbole aktiviert werden, kompositorisch umgesetzt als Scherzo, durch Hörner-Dominanz als ›Jagd-Stück‹ ausgewiesen, mit Trio (oberstimmenbetont mit einer ›volkstümlichen‹ Melodie in Terzparallelen). An dieser Stelle mögen einige Bemerkungen zum Themenkreis ›Wald‹ genügen. Der Wald spielte in der Hermann-Legende, einem der Ursprungsmythen der deutschen Nation, eine ebenso große Rolle wie in den sogenannten Befreiungskriegen gegen Napoleon, wie z.B. aus Caspar David Friedrichs Bild Der Chasseur im Wald erhellt (vgl. Lindemann, 98). Zwischen dem Kampf ›der Deutschen‹ gegen die römischen ›Eindringlinge‹ und dem gegen die französische Besetzung wurden nicht zuletzt auf der Basis des Symbols des Waldes Beziehungen hergestellt, die wiederum beispielhaft in Friedrichs Bild Felsental (Das Grab des Arminius) aus dem Völkerschlachtjahr 1813 gezeigt werden (vgl. Lindemann, 95 f.):

»Die Waldgegend als Bestandteil der Symbolik verkörpert nicht nur den ›saltus Teutoburgiensis‹ des Mythos, sondern auch den Wald als


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