- 172 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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wurde, in der den Deutschen eine »éminente faculté de penser« nachgerühmt und Deutschland insgesamt als »nation méditative« charakterisiert wird (de Staël, I, 57 u. II, 243). Indem Deutsche dieses Stereotyp akzeptieren – und zwar gern und ohne außerhalb Deutschlands zuweilen mitgemeinte Bedeutungen wie ›deutsche Pedanterie‹ –, findet eine Selbstidentifikation statt, ohne die »die Konfiguration der Nationalcharaktere im Zeitalter des europäischen Nationalismus ein völlig beliebiges Spiel der Polemik geblieben« wäre (Gerhard/Link, 33). Insbesondere im künstlerischen Bereich wird das Epitheton ›tief‹ oft verwendet, häufig als Gegensatz zur ›Flachheit‹ italienischer oder französischer Werke. Ein frühes Beispiel findet sich in einem Festlied, das 1828 anläßlich des Nürnberger Dürer-Fests entstand und in dem »das tiefe deutsche Wesen« besungen wird (Campe, 24).

Raff wählt – fast möchte man sagen: natürlich – das satztechnische Mittel der Fuge, das traditionell mit ›deutscher Musik‹ verbunden wird. Aus der Fülle der Belege sei wiederum ein Artikel aus der Schilling-Enzyklopädie herangezogen. Adolph Bernhard Marx bemerkt hier zur Fuge:

»Keine Nation kann sich eben in solchen Bildungen mit der deutschen vergleichen; wie dies eine Folge der tieferen Musikanlage der Deutschen ist, so wird es auch eine Quelle ihrer größeren Macht, und kann dem verstehenden Geiste als Beweis dienen. Das subjektive, rein persönliche Wesen hat sich bei den Italienern zu sinnlichem Reize entfalten können; aber die Fuge, recht verstanden, führt uns über unser kleines Ich hinaus; objektiv treten andere, zahlreiche Persönlichkeiten aus unserem Geiste hervor, höher in sich, höher und mächtiger in ihrem freien und starken Gegeneinander-Auftreten und Miteinanderwirken.«  (Marx, 84)

Insbesondere ist hier an Johann Sebastian Bach zu denken, der im 19. Jahrhundert als ›deutscher Künstler‹ gefeiert wurde, dessen Werke allerdings bereits im 18. Jahrhundert »als Argument in einer Auseinandersetzung [...] um das Verhältnis zwischen italienischer, französischer und deutscher Musik« dienten, indem sie »gleichsam als Waffe [...] gegen die als verderblich angesehenen Einflüsse eines leichtfertigen, der jeweiligen Tagesmode huldigenden Musikbetriebes« benutzt wurden (Forchert, 215 u. 217).

Die Denkfigur, ›deutsche Tiefe‹ mit ›Fuge‹ zu verbinden, greift Jahrzehnte später Thomas Mann in seinen Betrachtungen auf:

»Seit Luthers religiös-musikalischem Wirken aber ist die Musik, die deutsche, von Bach bis auf Reger, – ist das punctum contra punctum, die große fuga, nicht nur tönender Ausdruck protestantischer Ethik, sondern, mit ihrem gewaltig-vieltönigen Ineinander von Eigenwille und Ordnung, Abbild und künstlerisch-spirituelle Spiegelung des deutschen Lebens selbst gewesen.«  (Mann 1983, 320)


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