- 171 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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provozierte und die nationale Frage in Deutschland wieder aufleben ließ.« (Siemann, 172)

Sichtbare Zeichen des ›Aufbruchs‹ waren die Gründung des Deutschen Nationalvereins – bereits 1859 sinnlich erfahrbar in den zum hundertsten Geburtstag des Dichters veranstalteten Schillerfeiern in mehr als 500 Städten – sowie der Zusammenschluß der vormärzlichen Vereine in gesamtdeutsche Dachverbände (vgl. Dann 1996, 151).

Zwar »fanden die erregten Debatten mit dem Frieden von Villafranca vorerst ein Ende«, doch »wachsende Ungeduld« blieb zurück, die nach der Annexion von Nizza durch Napoleon III. im März 1860 »einem europaweiten Sturm der Entrüstung« wich. In Deutschland steigerte man sich »geradezu in eine nationalkriegerische Verteidigungseuphorie hinein«, zumal »die Erfahrungen mit dem Napoleonischen Zeitalter im kollektiven Gedächtnis erstaunlich gut haften geblieben« waren. Das war auch im für die deutsche Nationalbewegung so wichtigen Vereinswesen zu bemerken: »Merklich nahmen seit Frühjahr 1860 die nationalpolitischen Botschaften zu. Kaum ein Sängerfest ließ den Heroismus von Kriegsliedern oder Schlachtengesängen vermissen.« (Klenke 1998, 98, 99 u. 100; zum Nürnberger Sängerfest 1861: 104-122) Besonders hervorzuheben ist »Arndts berühmtes Vaterlandslied Was ist des Deutschen Vaterland, das auf fast allen Nationalfesten der 1860er Jahre zu hören war« (Klenke 1995, 417) und seit den 1840er Jahren »zur heimlichen Nationalhymne der Deutschen« aufgestiegen war (Klenke 1998, 67; vgl. auch Hattenhauer, 45). Wenn Joachim Raff das Lied – dies sei vorweggenommen – in zwei Sätzen seiner Symphonie zitiert, so handelt es sich also einerseits ganz allgemein um das »Phänomen einer Verknüpfung von Musik und Politik« (Sonntag, 23), aber auch um eine Verknüpfung von ›niederer‹ und ›hoher‹ Kultur im Zeichen des deutschen Nationalismus.

Neben der allgemein gehaltenen »Notiz« verfaßte Raff für seine Symphonie ein Programm, das im folgenden – Satz für Satz – mitgeteilt und auf seinen kollektivsymbolischen Gehalt befragt werden soll.

Im ersten Satz »versuchte der Tondichter, freien Aufschwung – gedankenhafte Vertiefung – Sittigung und Milde – sieghafte Ausdauer – als bedeutende Momente des Deutschen, welche sich vielfach ergänzen, durchdringen und bedingen, tonbildlich zu schildern.« Die »tonbildliche Schilderung« beschränkt sich zunächst darauf, analog der aufgezählten nationaltypischen Eigenschaften vier unterschiedliche Themen zu exponieren. Nicht zuletzt darauf beruht die beträchtliche Länge dieses nach den Prinzipien der Sonatenform gestalteten Satzes. Von besonderem Interesse – und deshalb hier herausgegriffen – ist das allerorten anzutreffende Stereotyp der ›deutschen Tiefe‹, das vor allem durch Germaine de Staëls Schrift De l’Allemagne verbreitet


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