- 169 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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Das ›Aufblühen‹ des Nationalismus fällt zusammen mit einer bestimmten musikgeschichtlichen Situation: Der italienischen Musik – so gut wie ausschließlich mit der Gattung Oper identifiziert – wurde zunehmend »die universale Geltung abgesprochen und [...] zum bloßen Nationalstil degradiert« (Seidel, 11); indem nun zugleich das Prestige der Instrumentalmusik wuchs, bot sich diese zwanglos dem ideologischen Zugriff an. Adolph Bernhard Marx stellt mit Blick auf Beethoven bereits 1824 fest, den Deutschen sei »die Symphonie eigen« (zit. nach Pederson, 17, Anm. 23), und Gottfried Wilhelm Fink formuliert anderthalb Jahrzehnte später in der Schilling-Enzyklopädie, einer Publikation mit Multiplikations-Effekt also: »Die Symphonien in ihrer ganzen Herrlichkeit sind unser, sind teutsch.« (Fink, 623) Diese Zuweisung wirkte höchst erfolgreich. Rund 100 Jahre später wird die Symphonie umstandslos als »deutscheste Kunstform« bezeichnet (Tischer, 35). Richard Wagner wiederum betont, der Deutsche gehe mit »Religiosität« an Musik heran, »wie an das Heiligste seines Lebens«, und eben dieser Hang verweise »den Deutschen auf die Instrumentalmusik,« die »somit das ausschließliche Eigenthum des Deutschen« sei (Wagner, 155 u. 156). Zur gleichen Zeit vereinnahmt Robert Schumann Beethovens symphonisches Oeuvre als spezifisch nationales Kulturgut: »Wie Italien sein Neapel hat, der Franzose seine Revolution, der Engländer seine Schiffahrt etc., so der Deutsche seine Beethovenschen Symphonien«, ja sie taugen sogar dazu, politische Niederlagen zu sublimieren. Mit Beethoven habe der Deutsche »im Geist die Schlachten wieder gewonnen, die ihm Napoleon abgenommen.« (Schumann, 206) Schumanns Äußerung steht gleichzeitig für ein spezifisch deutsches Verständnis des Begriffs Kultur: Dieser besaß nämlich »im Kern eine apolitische oder vielleicht sogar antipolitische Stoßrichtung, die symptomatisch war für das wiederkehrende Gefühl deutscher Mittelklasse-Eliten, daß Politik und Staat den Bereich ihrer Unfreiheit und Demütigung, die Kultur den Bereich ihrer Freiheit und ihres Stolzes repräsentierte.« (Elias, 165) Mit diesem Kulturverständnis wird nach Rudolf von Thadden »der wohl wichtigste Unterschied im französischen und deutschen Identitätsgefühl« bezeichnet (von Thadden, 508). Die »antipolitische Stoßrichtung« wendet sich gegen die durch aristokratisch-feudale Herrschaftsstrukturen geprägte »politische Geschichte«. Das Kulturverständnis selbst ist dadurch natürlich nicht apolitisch, im Gegenteil, es schafft gerade Freiräume für eine Politisierung der Kultur im Sinne der Mittelklasse. So übt die »um 1800 entdeckte, scheinbar vorpolitische ›Sprachnation‹ [...] unmittelbar eine politische Funktion aus, gegen die französische (Staats-) Nation gerichtet, das (noch nicht existierende) ›deutsche Volk‹ zur Einheit aufrufend.« (Koselleck, 148)

Die Versinnlichung der Nation in einer konkreten Symbolstruktur – hier: in einer als spezifisch deutsch aufgefaßten Musik – tritt, wie Schumanns Satz


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