- 163 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
  Erste Seite (2) Vorherige Seite (162)Nächste Seite (164) Letzte Seite (422)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

ständig für eine befreite, glücklichere Menschheit ereiferte, sich aber zugleich als ein aus der sogenannten Sturm- und Drang-Bewegung des frühbürgerlichen Liberalismus hervorgehendes Originalgenie empfand, das im Rahmen der gegebenen Umstände auch mit seiner persönlichen Eigenart aufzutrumpfen versuchte (vgl. Hermand, 1982, 192f.).

Aufgrund dieser von Adorno klar erkannten Widersprüche läßt sich nicht leugnen, daß Beethovens Musik ständig in der Spannung zwischen subjektiven Genieeinfällen (Pathétique ), Bekenntnissen zum Prometheischen (Eroica ), Lobliedern auf das Hausväterliche (Anfang des Fidelio), utopischen Hoffnungen auf »bessere Welten« (zweiter Akt derselben Oper), Beschwörungen einer allgemeinen Fraternité (»Seid umschlungen Millionen«), säkularisierten Gebetsmelodien (»Dankgesang eines Genesenden an die Gottheit«) sowie Rückfällen ins Schicksalsverhängte (»Muß es sein? Es muß sein!«) steht, die erst in ihrem komplizierten Nebeneinander, ja manchmal sogar Ineinander ein volles Bild dessen ergeben, was Beethoven in seiner Epoche erlebte und zugleich künstlerisch zu verarbeiten suchte. Schließlich war diese Epoche, die von der josephinischen Aufklärung, der Französischen Revolution mit ihrer Jakobinerherrschaft und ihren girondistischen Rückschlägen über die Zeit der Koalitionskriege, des Aufstiegs Napoleons und der Befreiungskriege bis zur Restaurierung des Ancien régime auf dem Wiener Kongreß reichte, eine der dramatischsten und von extremen politischen Gegensätzen durchzogenen Perioden der zentraleuropäischen Geschichte, an der Beethoven als leichtentzündliches Genie mit allen Fasern seines Wesens einen intensiven Anteil nahm. Diesem widerspruchsvollen Entwicklungsverlauf der Geschichte, der sich in Beethovens Musik auf eine zutiefst erregende Weise widerspiegelt, allerdings, wie Adorno das tut, allein mit dem Hegelschen Prinzip der Dialektik, deren anfangs von Beethoven angestrebte Synthese von Subjektivität und Objektivität in seinem viele Züge der Moderne vorwegnehmenden Spätwerk wieder auseinanderbreche, nahekommen zu wollen, erscheint mir, so fruchbar manche der damit verbundenen Einsichten auch sein mögen, auf weite Strecken höchst forciert.

Man sage nicht, daß dieses Buch, falls Adorno seine Beethoven-Notate wirklich zu einem in sich schlüssigen Traktat ausgearbeitet hätte, wesentlich anders ausgefallen wäre. Auch bei der Lektüre dieser 370 mehr oder minder aphoristischen Aufzeichnungen hat man stets das Gefühl, den reifen Adorno zu hören. Hier spricht jemand, der seine philosophischen Grundansichten bereits voll entwickelt hat und sie auf die von ihm zum Teil hochverehrte Musik Beethovens anzuwenden versucht. Daß man dabei zwar viel über Adorno, aber weniger über Beethoven erfährt, trifft nicht nur auf dieses Buch zu. Auch seine Philosophie der neuen Musik ist letztlich kein Buch über Schönberg und Strawinsky, sondern ebenfalls eine Einführung in jenen Prozeß,


Erste Seite (2) Vorherige Seite (162)Nächste Seite (164) Letzte Seite (422)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 163 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft