- 162 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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als »Antizipation« von Wagners Tristan und Isolde bezeichnet (vgl. Adorno 1994, 251). Was damit gewonnen wird, ist kaum einzusehen. Es sei denn, man erblicke darin eine Bestätigung jener höchst fragwürdigen These, daß Musik – im Rahmen eines von allen politischen, sozialen und weltanschaulichen Elementen gereinigten, also ins Formale entleerten Progressionsschemas – stets immanent aus bereits bestehender Musik hervorgehe, das heißt die älteren Tonmaterialien lediglich in einem formal-innovativen Sinne umarbeite.

Aber das kann ja nicht Adornos Sehweise sein, der auch in diesem Punkt einem späthegelianischen Denken verpflichtet bleibt. Allerdings steuert bei ihm – im Rahmen seiner negativen Dialektik – der Hegelsche Weltgeist bereits auf ein nicht oder kaum mehr aufzuhebendes Ende hin. Lediglich die höchsten Werke der Kunst, wie die Musik des späten Beethoven oder die Werke Schönbergs, die sich gegen die unablässig fortschreitende Entfremdung und Ideologisierung der Welt zu »sperren« scheinen, lassen Adorno manchmal doch hoffen, daß diese Dialektik eines Tages – indem sie »gegen die universale Selbstentfremdung« das »hoffnungslos Entfremdete geltend« macht, wie es in seiner Philosophie der neuen Musik heißt (vgl. Adorno 1975, 34) – doch wieder ins Positive umschlagen könnte. Wie dies allerdings geschehen soll, bleibt unerfindlich. Jedenfalls wird bei solchen Hoffnungen auf die Hilfe bürgerlich-liberaler oder sozialistischer Konzepte ausdrücklich verzichtet. Immer wieder sind es lediglich einige Kunstwerke, die den Zustand der herrschenden Negativität möglichst unvermittelt wiederzugeben versuchen, welche in diesem Zusammenhang als mögliche »Flaschenpost zu neuen Ufern« erwähnt werden (vgl. Adorno 1975, 79).

Kein Wunder daher, daß sich Adorno mit dem frühen und mittleren Beethoven, der sich noch den revolutionären Hoffnungen der Französischen Revolution hingab, wesentlich weniger beschäftigt als mit dem späten Beethoven, in dessen Werken der anfängliche Elan, wie Adorno in Übereinstimmung mit seinen geschichtsphilosophischen Verfallsvorstellungen behauptet, immer stärker ins Leere tendiere. Was Adorno am frühen und mittleren Beethoven interessiert, um auch ihn in sein Konzept der negativen Dialektik einzubeziehen, ist – trotz der geradezu ›klassischen‹ Formgebung seiner Werke – vor allem der »Bruch« zwischen »bürgerlicher Ideologie« und gesellschaftlicher »Realität«, also der Widerspruch zwischen dem »Citoyen« Beethoven und dem »Empire-Stil« seiner Zeit (vgl. Adorno 1994, 151). Im Hinblick auf diesen Widerspruch, der von progressiv eingestellten Historikern häufig allzu optimistisch überblendet werde, kommt Adorno – aufgrund seiner pessimistisch eingedüsterten und daher stets kritisch hinterfragenden Weltanschauung – manchmal zu wichtigen, nicht zu leugnenden Einsichten. Dazu gehört unter anderm die Erkenntnis, daß Beethoven zwar ein josephinisch gestimmter Aufklärer, ja in manchem fast ein Jakobiner war, der sich


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