- 161 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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Grab 109–124), wie stark Beethoven von Komponisten der Französischen Revolution wie Luigi Cherubini, François-Joseph Gossec, André Gretry, Rodolphe Kreutzer, Jean François Lesueur, Ignaz Pleyel usw. inspiriert wurde, wie eng sein Verhältnis zu Paul Wranitzky und Antonin Reicha, den beiden anderen deutschen Komponisten von Revolutionssymphonien, war, wie sein Fidelio in die Welle der durch den Bastille-Sturm ausgelösten Befreiungs- und Rettungsopern hineingehört, wie er sich in Wien im Salon des Grafen Bernadotte mit den Publikationen des Musikverlags der Französischen Revolution vertraut machte, wie er selbst nach der Restauration des Ancien régime auf dem Wiener Kongreß weiterhin radikalaufklärerische Schriften bevorzugte (vgl. Hermand 1999, 85–99) und wie eng diese Erfahrungen nicht nur auf seine Gesinnung, sondern auch auf die musikalische Struktur seiner Werke – in Form ständiger Marschrhythmen und beseligender Humanitätsmelodien – eingewirkt haben.

Von alledem findet sich in Adornos Beethoven-Fragmenten fast nichts. Es gibt zwar bei ihm auch Sätze wie: »Die Beethovenschen Symphonien waren, objektiv, Volksreden an die Menschheit, die, indem sie ihr das Gesetz des Lebens vorführten, sie zum unbewußten Bewußtsein jener Einheit bringen wollten, die den Individuen sonst in ihrer diffusen Existenz verborgen ist.« (172) Doch mit einer solchen Redewendung wird lediglich ein pseudopolitischer Gestus beschworen, der auf die Erfüllung eines nicht näher definierten und damit nebulös bleibenden ›Gesetz des Lebens‹ drängt. Ja, im Folgenden wird selbst diese Forderung von Adorno wieder zurückgenommen und auf die »Unvereinbarkeit« des politisch Allgemeinen und des individuell Besonderen hingewiesen. Dieser Widerspruch sei bereits dem alten Haydn aufgegangen, heißt es im gleichen Zusammenhang, als er den jungen Beethoven – wegen seines hochfahrenden Anspruchs – als einen musikalischen »Großmogul« (173) verspottet habe.

Wenn Adorno in seinen musikalischen Formanalysen oder philosophischen Spekulationen überhaupt etwas näher auf Zeitgeschichtliches eingeht (was selten genug geschieht), dann lediglich im Sinne herkömmlicher Epochenbezeichnungen wie Klassik, Romantik oder Biedermeier. Aber selbst sie bleiben recht unkonkret, statt genauer auf irgendwelche sozialen oder gesamtkulturellen »Felder« bezogen zu werden. So heißt es einmal: »Der erste Satz der Eroica, Beethovens ›klassischster‹ ist in gewissem Sinn der romantischste« (151). An anderer Stelle bringt Adorno einige Werke Beethovens mit »Romantikern« wie Franz Schubert und Caspar David Friedrich in Verbindung (vgl. Adorno 1994, 126), jedoch ohne daraus irgendwelche kulturpolitischen oder mentalitätsgeschichtlichen Folgerungen zu ziehen. Ebenso unkonkret wirken seine Erläuterungen zum zweiten Satz der Klaviersonate Les Adieux, den er – unter Weglassung aller historischen Begründungen –


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