- 160 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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Bürgerklasse, die rhetorische Musik der Säkularisierung der christlich-liturgischen. Was in seiner Musik Sprache und Humanität ist, wird von hier aus zu entfalten sein.«  (235)

Das klingt im Munde eines Adorno auf Anhieb ungewohnt, allerdings nur vor dem Hintergrund der Schriften betont christlicher Autoren und nicht vor dem Hintergrund der Schriften Walter Benjamins, die an dieser Stelle ausdrücklich erwähnt werden (vgl. Adorno 1994, 235). Schließlich brauchte auch Adorno – bei allem Bilderverbot und aller Angst vor dem Ideologischen – irgendwelche ins Verbindliche tendierenden Formeln, um nicht als ein auf die pure Kunstautonomie pochender Formalist mißverstanden zu werden, der überhaupt keinen Sinn für die seelische oder mentalitätsgeschichtliche Fundierung der von ihm interpretierten Kompositionen habe. Aus diesem Grund stellt sich im Text seiner Beethoven-Fragmente manchmal der Begriff einer theologisierten »Humanität« ein, mit dem Adorno die nobelste Intention einer ins Höhere, ja Höchste vorstoßenden Kunstpraxis zu umschreiben versucht. Dementsprechend lesen wir unter dem Stichwort »Das Element der ›Praxis‹ bei Beethoven«:

»Humanität bei ihm heißt: so sollst du dich verhalten, wie diese Musik sich verhält. Anweisungen zu einem aktiven, tätigen, sich entäußernden, dabei nicht engen und solidarischen Leben. Dazu ›dem Mann Feuer aus der Seele schlagen‹ – nicht ›Wallung‹.« (28)

Äußerungen dieser Art gehören meiner Meinung nach zum Besten, was sich in Adornos Beethoven-Fragmenten findet. Leider tauchen sie auf den 270 Seiten dieses Buches nur zwei- oder dreimal auf und werden sofort wieder durch formalästhetische Analysen sowie abstrakte Weltgeistspekulationen in den Hintergrund gedrängt. Schließlich hätten gerade sie eine gute Basis dafür abgeben können, den zeitgeschichtlich vermittelten Denk- und Mentalitätsstrukturen der Beethovenschen Werke etwas näher auf die Spur zu kommen. Um wieviel konkreter haben dagegen Hanns Eisler, Boris Assafjew, Harry Goldschmidt, Georg Knepler, Günter Mayer, Constantin Floros, Peter Schleuning und Maynard Salomon die mitreißende Dynamik, die sich aus der dialektischen Struktur der Beethovenschen Musik ergibt, mit den josephinischen, jakobinischen, girondistischen und napoleonischen Elementen in Beethovens Geistes- und Seelenverfassung in Zusammenhang gebracht und dafür in ihren Interpretationen von Beethovens Trauerkantate auf den Tod Josephs II., seinem heroischen Ballett Die Geschöpfe des Prometheus, seiner Sinfonia Eroica, der Musik zu Goethes Egmont , seinem Fidelio, seiner Kreutzer-Sonate, seiner Appassionata usw. überzeugende Belege geliefert. Durch ihre Studien wissen wir heute sehr genau, wieviel Beethoven seinem Bonner Lehrer, dem Jakobiner Eulogius Schneider, verdankt (vgl.


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