- 157 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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er einmal: »Die Kunstwerke des ersten Ranges unterscheiden sich von den anderen nicht durchs Gelingen – was ist schon gelungen? – sondern durch die Weise ihres Mißlingens« (149). Höchstes, Größtes, Bedeutendstes ist deshalb für Adorno nur das, was als Kunst an die Grenze des Unerreichbaren stößt, wie etwa Beethovens letzte Klaviersonate op. 111, die ja auch Thomas Mann, nach längeren Gesprächen mit Adorno, in seinen Roman Doktor Faustus (1947) als ein Werk der nie wieder erreichten Höhe dargestellt hat (vgl. Mann, 74–77).

Was in diesen Überbietungsgesten zum Ausdruck kommt, ist letztlich eine Kunstanschauung, die alle konkreten Inhaltsbestimmtheiten von Musik – also das, was Georg Lukács die »doppelte Mimesis« (Lukács 1963, 330–401) genannt hat, um auch die Musik in den Bereich materialistischer Widerspiegelungstheorien einzubeziehen – streng von sich weist. Im Gegensatz zu solchen mimetischen Interpretationsbemühungen war allerdings auch für Adorno Musik nicht »einfach tönend bewegte Form« (Hanslick 1976, 32), wie Eduard Hanslick als Vertreter einer absoluten Musikautonomie geschrieben hatte, sondern stets das Produkt einer höchst konkreten Subjekt-Objekt-Beziehung. Dennoch weigerte er sich, irgendwelchen dialektisch zustande gekommenen musikalischen Strukturen eine klar erkennbare inhaltliche Spezifität zuzugestehen. Besonders vehement wandte er sich gegen alle impressionistischen, geistesgeschichtlichen, deutsch-nationalen oder sozialistisch- materialistischen Versuche, Werken der Instrumentalmusik aus der Wirklichkeit abgeleitete »Inhalte« unterschieben zu wollen (vgl. Hermand 1981, 76–81). Der »Gehalt« eines musikalischen Werkes bestand für ihn nicht in einer klar erkennbaren Bildlichkeit oder genau zu definierenden Seelenstimmung, sondern in ihrer »objektiv-musikalischen Gestalt« (23). Demzufolge hielt er »alle Aussagen über den Gehalt musikalischer Werke«, falls sie »nicht den technischen Befunden abgezwungen werden«, für »reines Geschwätz« (23). Einen der fahrlässigsten solcher von bildlichen Äquivalenten ausgehenden »Barbaren« sah er in Paul Bekker, der in seinem Beethoven -Buch von 1911 an Beethovens Symphonien vor allem die »tonmalerischen« Elemente herausgearbeitet hatte (vgl. Adorno 1994, 23). Festlegungen solcher Art erschienen Adorno von vornherein »affirmativ« und damit in seinem Sinne »ideologisch«.

Wenn also Adorno in seinen Beethoven-Fragmenten Begriffe wie »Humanität«, »Substanz«, »Erfahrung«, »Authentizität«, »Dialektik« oder »Wahrheit« verwendet, um damit auch eine gewisse Inhaltlichkeit in seine Analysen einzubeziehen, bleibt er stets im Bereich abstrakter Sinnstrukturen. Und das konnte aufgrund seiner Prämissen gar nicht anders sein, da er fest davon überzeugt war, daß Musik »freier«, das heißt nicht so stark der »Realität« verpflichtet sei als die anderen Künste (vgl. Adorno 1994, 26). Für ihn bestand


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