- 154 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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Auf diese Weise wird dem Aufbau einzelner Werke oft eine »Autonomie der Form« (26) zugestanden, die sich über alle vorgegebenen Wirklichkeitsbezüge oder seelischen Stimmungen in den Bereich lediglich philosophisch zu entschlüsselnder Sinnstrukturen erhebe. Während Literatur und Malerei stets etwas »Reales«, also nicht »in die Autonomie der Kunst Aufgelöstes« enthielten, sei die Musik, behauptet Adorno, mit deutlichen Anklängen an Schopenhauer, von solchen Wirklichkeitsbezügen weitgehend frei (vgl. Adorno 1994, 26). Der »strenge und reine Begriff von Kunst«, heißt es an einer Stelle mit apodiktischer Schärfe, lasse sich deshalb »überhaupt nur der Musik entnehmen« (26), die in ihren Formen »nicht einfach eine Widerspiegelung der Realität« oder der »Ausdruck einer veränderten Seelenlage« (95) sei, sondern fast ausschließlich den immanenten Gesetzen der Entwicklung des musikalischen Materials unterliege. Als Kronzeugen solcher Anschauungen zieht Adorno dabei gern Schönberg- Schüler wie Rudolf Kolisch oder René Leibowitz, aber auch formalanalytisch eingestellte ältere Musikwissenschaftler wie Hugo Riemann, August Halm und Heinrich Schenker heran.

Soviel zu Adornos »Hegelischen« Analysen der ›klassischen‹ Werke des frühen und mittleren Beethoven. Sobald er dagegen auf den Stil des späten Beethoven zu sprechen kommt, ändern sich seine Formkriterien plötzlich (vgl. Sziborsky, 85ff.). Hier sieht er mit einem Mal ganz andere gestalterische Triebkräfte am Werk, die aus dem Bereich des ›Klassischen‹ bereits in den Bereich einer zwar nicht näher definierten, aber nicht mehr mit den Kriterien Hegels zu fassenden ›Moderne‹ verwiesen. In dieser Phase seines Schaffens durchschaue Beethoven die Klassik als ›Klassizismus‹, kurzum: lehne sich mit den Stilmitteln der Negation gegen das »Affirmative« und damit »unkritisch das Sein Bejahende« (219) auf. »Der Wahrheitsanspruch des letzten Beethoven«, heißt es weiter, »verwirft den Schein jener Identität des Subjektiven und Objektiven, der fast eins ist mit der klassizistischen Idee. Es erfolgt eine Polarisierung. Einheit transzendiert zum Fragmentarischen« (220). Anstatt weiterhin nach Geschlossenheit, also einer dialektischen Synthese aus Subjektivität und Objektivität zu streben, werde in Beethovens späten Werken – vor allem den letzten Klaviersonaten, den Diabelli-Variationen, der Großen Fuge sowie den letzten fünf Streichquartetten – die »Totalität« weitgehend als »Nivellierung aufs Allgemein-Menschliche« (203) desavouiert. Diese Werke hätten darum keine »Totalität« mehr, sondern betonten eher das »Episodische« (225). Viele von ihnen neigten zur »Aufspaltung nach Extremen« (225), wiesen »offene Risse« (221) auf, ja tendierten fast zum »Katastrophischen« (184). Aufgrund dieser Hörweise geht Adorno schließlich soweit, die kühne These aufzustellen: »Diese Musik spricht die Sprache der Archaik, der Kinder, der Wilden und Gottes, aber nicht die des Individuums.


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